59 ‐ Aber Gefühle?

72 5 28
                                    

Noch nie in meinem Leben habe ich so gezittert. Und dabei habe ich nach der Trennung von Maria einen Ausflug nach Grönland unternommen, wo ich im tiefsten Winter gewandert bin und zwanzig Kilometer lange Fahrten mit dem Hundeschlitten durch die eisige Tundra hinter mich gebracht habe.

Diese Zittern ist anders. Ich friere nicht, ich habe einfach nur Angst. Die beängstigendste, schrecklichste Form von Furcht dieses Mal.

„Dag", sage ich.
„Vincent, wenn du mich jetzt nochmal fragst, ob sie dich verlässt, dann schlage ich dir deine zweiunddreißig klappernden Zähne aus, ich schwör's dir", warnt er mich.
„Kann ich jetzt zu ihr?", stelle ich ihm die andere Frage, die er mindestens genauso oft gehört hat. „Sie ist nicht mehr draußen", behaupte ich direkt danach mir selbst gegenüber, denn ich will vorbereitet sein, für den Fall, das Dag nun plötzlich bejaht. Mein Herz überschlägt sich. Aber nicht vor Freude.

„Doch", erlöst er mich, legt mir einen Arm um die Schultern und drückt mich an seine Seite. „Iara hätte mir sonst Bescheid gesagt."
„Ist deine Internetverbindung überhaupt stabil?"
„Ist sie", erwidert er. An seiner Miene kann ich ablesen, dass er sich große Sorgen macht. Weil es sein könnte, dass sie mich wirklich verlässt?

Obwohl ich komplett reizüberflutet bin, weil die Party nach wie vor in vollem Gange ist, höre ich Aleks' schnelle Schritte deutlich. Sie bewegt sich für gewöhnlich total leise, aber heute trägt sie mörderisch hohe Plateaustiefel an ihren Füßen, die sie beinah übermenschlich groß wirken lassen. In ihrem staubgrauen Mini-Dress ist sie die engelsgleiche Botin, von der es nun abhängt.

„Du kannst zu ihr gehen", versetzt sie und ich springe auf, noch nie ist so schnell Energie durch meinen Körper geschossen. Ich sprinte an den Leuten vorbei, sie sind unwichtig. Die einzige Person, die zählt, ist meine Freundin.

Iara ist noch bei ihr, doch als sie mich sieht, entfernt sie sich und verschwindet irgendwo hinter meinem Rücken. Mein Blick ist auf Charlotte gerichtet, die mir für den Moment nur ihre Kehrseite zeigt. Ich trete neben sie und schaue auch geradeaus, nehme einen tiefen Atemzug.

Mein kleiner Finger berührt ihren. Sie zuckt nicht fort, greift aber auch nicht nach meiner Hand. Als ich den Kopf leicht drehe, erkenne ich die Träne an ihrem unteren Wimpernkranz und will sie fortwischen. Ich hebe vorsichtig den Arm, um es zu tun, aber Charlotte weicht mir aus.

„Ich habe nur eine Frage", sagt sie dabei mit fester, schneidender Stimme. „Warum?"

Ich schüttle den Kopf und dieses Kribbeln setzt ein. Als müsste ich niesen, aber tausendmal schlimmer, weil ich nicht niesen muss – ich muss weinen.

„Ich hab das nicht gewusst, bitte glaub mir das", presse ich mühsam hervor. Charlotte presst die Lippen aufeinander und ballt die Fäuste.

„Was hast du denn gedacht, was passieren würde? Ihr habt ein Jahr lang fröhlich gebumst und noch öfter was als Freunde miteinander unternommen. Was dachtest du denn, worin das mal münden würde?"

„Ich dachte, für sie wäre das auch alles nur Spaß."

„War es denn nur Spaß für dich, Vincent?", will sie wissen. „Wag es bloß nicht, mich anzulügen." Gar nicht mal so einfach. Ich habe keinen blassen Schimmer, was wahr ist und was eher gelogen wäre.

„Ja und nein", antworte ich darum. „Wir standen uns nah. Wir haben zusammen studiert und allgemein viel Zeit miteinander verbracht. Wir teilen so viele Interessen und sind uns in den meisten Dingen einig –" Zum Glück unterbricht sie mich, an ihrer Stelle hätte ich bald zu gähnen angefangen.

„Du hast dich damals gefragt, wie es wäre, mit ihr zusammen zu sein." Das ist nicht der Zwischenruf, den ich mir erhofft habe, aber ich nehme, was ich kriegen kann. Charlottes Stimme bricht, als sie leiser fortfährt: „Und gerade eben nochmal. Als du sie aufgehalten hast, statt sie ziehen zu lassen. Ich hab es gesehen ... Du hast diese Frage nie konkret für dich beantwortet früher, und deshalb hast du heute knobeln müssen." Sie schüttelt fassungslos den Kopf. „Wieso nicht, Vincent? Wieso hattest du keine Antwort darauf parat? Warum hast du dieses Freundschaft-Plus-Ding mit ihr nie bis zuende durchdacht?" Zum Schluss klingt sie wieder so wütend, dass ich mir wünsche, der Boden möge sich unter mir auftun, damit die Hölle mich endlich verschluckt. Home sweet home.

So genialWo Geschichten leben. Entdecke jetzt