55 - Genialverändert

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Ich weiß, er merkt es, wie ich ihn aus dem Augenwinkel mustere; mich vergewissere, dass er noch da ist. Fast so, als würde er jeden Moment aus meinem fahrenden Prius springen und sich wortlos auf Nimmerwiedersehen von mir verabschieden.

Als wir zu mir aufgebrochen sind, habe ich ein Lächeln auf meinen Lippen balanciert, mit Leichtigkeit. Das Gefühl von Vertrauen hat mich vollständig durchströmt, doch so unerwartet wie es kam, ist es auch gleich wieder verschwunden. Mein Freund sieht sich selbst nicht ähnlich, wie er auf dem Sitz hängt und stur geradeaus starrt. Nicht anders als ein nasses Laken auf der Wäscheleine ... Oder vielleicht sieht er sich ja furchtbar ähnlich, auf welcher Basis bilde ich mir überhaupt ein, das beurteilen zu können?

Ich muss mich wohl oder übel der Tatsache stellen, dass ich Vincent Stein eben erst seit wenigen Monaten kenne ... während er mit Maria zuvor schon ein ganzes Leben geteilt hat.

Nicht, dass das das Problem wäre.

Meine Beziehung zu Marley kommt mir heute genauso wie ein tiefer Einschnitt vor, der mein Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Der mein gesamtes Wesen kurzfristig in seinen Grundfesten erschüttert hat, bevor ich mir eine zweite Chance erkämpfen durfte. Und nun bin ich endlich Vincent begegnet, und wir sind wie füreinander geschaffen.
Aber wir haben beide gelitten.

Ich bin sicher, wenn ich jetzt an mir runterschauen würde, würde meine Fantasie mir vorgaukeln, dass da eine Nadel aus meinem Körper rausguckt. Ziemlich genau auf Höhe meines Herzens. Nicht irgendeine Nadel, eine Stricknadel. So stumpf wie die sind, tun sie bestimmt höllisch weh, wenn man sie in menschliches Gewebe reinrammt. Mit solcher Brutalität hat es mich wirklich getroffen, was ihm widerfahren ist. Als hätte das Schicksal mich mit all diesen mörderischen Hass belastet, der ihn so runterzieht.

Ich muss schlucken, als mir klar wird: Ich bemitleide ihn, und ich hasse mich dafür. Feststeht dadurch nämlich erstmal, dass ich mit niemandem zusammen sein sollte, wenn ich mich auf diese ekelhafte Art über ihn stelle. Das ist nur die Wahrheit. Aber dieses verstaubte Das-geht-gegen-meine-Prinzipien-Mantra lässt mich ausnahmsweise husten. Theoretisch würde ich mich jetzt sofort aus dieser Situation entfernen, ich kenne mich - Ich würde Reißaus nehmen, wie die letzten Jahre immerzu. Meine vielen Onenightstands, und warum das alles? Ich habe daran genagt wie an bleichen Knochen, um meinen Hunger zu stillen. Genährt hat mich trotzdem nur eins bis hierhin - mein Freund. Wahrscheinlich ärgere ich mich deshalb über den Fluchtimpuls.

Was siegt schlussendlich und unfehlbar? Meine Mutter hat schon seit ich mich erinnern kann dieselbe Antwort auf diese Frage. Sind es diese grotesk kleinteiligen Regeln, die wir uns aufbürden? Oder ist es die Liebe, die gewinnt?
Sich nuanciert an eine Lösung für ein vertracktes Problem herantasten war nie meine Stärke. Geduld ebenso wenig.

Aber wenn ich so weitermache, opfere ich meiner Prinzipientreue vielleicht das Beste, was mir je passiert ist.

Beim Einparken atme ich dreimal ein und wieder aus. Obwohl mich das sonst zuverlässig beruhigt, zucke ich fast ängstlich zusammen, als Vincent mich fragt: „Überfordert dich das?" Seine Stimme ist leiser als üblich und er klingt nach wie vor ein bisschen heiser. „Die Storys von meiner Ex?"
Mein Kopf bewegt sich automatisch, ich schüttle ihn und schweige, bin perplex über meine eigene unangebrachte Reaktion. „Du hast mich doch danach gefragt", schiebt er hinterher, drängender, misstrauischer dieses Mal. Da realisiere ich, dass ich ihn gerade echt angelogen habe mit diesem blöden Kopfschütteln.

„Doch, natürlich. Du hast recht", gebe ich es zu. „Das überfordert mich." Grandios, Charlotte. Eben ich hatte die Erkenntnis und hätte es dementsprechend anders angehen können, aber was mache ich stattdessen? Ich falle in alte Muster zurück. Mir bleibt keine Zeit, zähneknirschend meinen verletzten Stolz zu betrauern.
„Warum hast du dann darauf bestanden, dass ich dir das alles erzähle?", will er wissen. Es ist die Frage eines Scharfschützen. Ich kenne seinen Tonfall: Er bereitet sich darauf vor, gnadenlos zurückzuschießen, sollte ich ihn jetzt wieder belügen. Und irgendwie ist das, was ich dann als nächstes sage, sogar noch schlimmer.
„Tut mir leid." Die Entschuldigung rollt mir reflexartig über die Lippen, obwohl ich mich für klüger gehalten hätte, so sanft wie samtweich. Einstudiert.

Kurz ist es totenstill in meinem Wagen.

„Ist das dein Kack-Ernst, Charlotte?", braust Vincent dann plötzlich auf. „Glaubst du, diesen Tut-mir-leid-Schwachsinn kannst du dir bei mir leisten, ja?"
„Nein", sage ich.
„Nein? Ach, ja, Mensch. Schön. Und was genau sollte das bitte?" Ich schaue ihm fest in die Augen; lese in seiner Miene, wie verletzt und aufgebracht er ist. „Warum mischst du dich überhaupt in meine Vergangenheit ein, wenn danach nichts mehr von dir kommt? Wo zur Hölle warst du mit deinen Gedanken die Fahrt über? Hast du schon Fluchtpläne geschmiedet, wie du mich möglichst schnell loswirst, jetzt, wo's kompliziert wird?"

„Okay, den Fluchtplan hätte ich mir beinah wirklich zurechtgelegt, aber ich habe mich anders entschieden. Ich lasse dich nicht allein, Vincent", verspreche ich ihm eindringlich. „Ich habe selbst eine Vorgeschichte, die nicht so einfach ist. Von der kennst du bisher nur einen Bruchteil, und ich weiß, dass du mir auch noch nicht alles, alles, alles erzählt hast, was zwischen dir und deiner Ex war. Aber eins weiß ich genau: Wenn ich alles daransetze, immer nur locker und unverbindlich eine gute Zeit mit dir zu verbringen, dann wäre unsere Beziehung auf Dauer nicht tragfähig." Ich nehme seine Hand in meine und versäume nicht, sie bei jedem Wort, das folgt, zu drücken: „Das möchte ich nicht. Ich will langfristig mit dir zusammen sein."

Vincent sucht forschend mein Gesicht nach Anzeichen ab, dass das eine neue dreiste Lüge sein könnte.
„Das hast du nicht sonderlich glaubwürdig vermittelt vorhin", schnaubt er schließlich, entzieht sich meinem Griff und rauft sich die Haare. „Ich will nicht streiten", sagt er und es ist unverkennbar: Die Erschöpfung hat sich endgültig in ihm breitgemacht.

„Dann lass uns damit aufhören und raufgehen", schlage ich vor. „Ich bin für dich da. Das hätte ich direkt sein sollen, als wir ins Auto gestiegen sind. Es war alles andere als cool, dich die ganze Fahrt über anzuschweigen."

Meine Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Vincent atmet geräuschvoll aus, führt meine Hand an seinen Mund und küsst sie.
„Mach sowas nicht nochmal mit mir", murmelt er. „Meine Nerven sind viel zu schwach für so 'ne Scheiße."

Wir steigen aus und als ich sehe, wie er die Schultern zurückrollt und die Beine ausschüttelt, bemitleide ich ihn kein Stück mehr - da ist nur noch reines Mitgefühl.

Zufrieden mit mir nehme ich meinen Schlüssel aus der Tasche meines Trenchcoats heraus und greife dennoch dreimal zittrig daneben bei meiner Mission, den für die Haustür zu erwischen. Schließlich lasse ich das Geklimper sein und bleibe auf halbem Weg zum Eingang stehen. An Vincents Mundwinkeln zupft verhalten ein müdes und zugleich furchtbar freches Grinsen.

„Kein Grund nervös zu sein, Chacha."
„Weiß ich, aber ich dachte, du freust dich vielleicht, wenn du siehst, dass dieser Konflikt nicht spurlos an mir vorbeigegangen ist", bekenne ich liebevoll spöttelnd und wende mich ihm zu. Er nimmt mir den Schlüssel weg und öffnet an meiner Stelle für uns die Tür. „Was steht jetzt an, was würde dir gut tun?", frage ich ihn derweil.
„Ich möchte nur mit dir auf der Couch liegen. Nichts tun, an nichts denken müssen."
„Das kriegen wir auf jeden Fall hin."
„Weiß ich", sagt er und dreht sich zu mir um. „Aber ich dachte, du freust dich vielleicht, wenn du kapierst, dass ich nicht nachtragend bin und wir selbst unmittelbar nach einem Streit eine gute Zeit miteinander verbringen können."

Er lehnt sich gegen die Briefkästen und zieht mich mit sich. Streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, küsst mich und ich schmiege mich an seinen Körper, umarme ihn. Schließe die Augen, atme seinen unverwechselbaren Geruch ein. So sauber, herb und fein duftet nur er. Das Vertrauen kehrt zurück, begleitet von diesem Lächeln, das vorhin schon mal da war, bevor wir vom Studio der Jungs aus losgefahren sind.
„Ich verändere mich", flüstere ich
„Gute oder schlechte Veränderung?", wispert er zurück. Sein Bart kitzelt mich am Ohrläppchen und ich muss schmunzeln.
„Genial gut."

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