30 - Praktisch nie eine Gelegenheit, zu genießen

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Ich bette meine Stirn auf meine Arme, schwebe mit der Nase nur Millimeter über der freigeräumten Schreibtisch-Unterlage. Es ist alles fertig. Meine To-do-Liste für diesen Mittwoch ist abgearbeitet. Ich habe den handgeschriebenen Zettel zerrissen, bevor ich ihn in den Papierkorb geworfen habe. Mit dieser aggressiven Geste baue ich inneren Druck ab. Es geht mir bereits besser jetzt, nachdem ich ein, zwei tiefe Atemzüge genommen habe. Blitzkrieg Bop, mein Klingelton, ertönt jedoch und beendet meine Kurz-Meditation frühzeitig.

„Hi", begrüße ich Vincent und reibe mir über die Augen, was ich sofort bereue. „Fuck", murmle ich und verreibe die Mascara-Klümpchen auf meinem Handrücken mit dem Knöchel meines Zeigefingers.
„Geh dir sofort den Mund mit Seife auswaschen", sagt mein Freund am anderen Ende der Leitung und entlockt mir damit ein leises Lachen.
„Dann schmeckt mir das Essen aber vielleicht nicht mehr, dass du hoffentlich für uns geholt hast."
„Unsere Pizzen liegen im Kofferraum." Allein durch die Vorstellung, wie ich gleich in etwas Essbares reinbeißen werde, schüttet mein Gehirn Glückshormone aus, die mich für den langen Arbeitstag entschädigen. „Das Navi sagt, ich bin in drei Minuten da", informiert Vincent mich.
„Okay, ich komme runter", beschließe ich und ziehe mir meine Jacke über.

Als ich wenig später am Straßenrand stehe, biegt Vincents BMW um die Ecke. Prompt blendet mein Freund mich mit dem Fernlicht. Ich zeige ihm den Mittelfinger. Er parkt unbeeindruckt auf der freien Fläche direkt vor dem Eingang, steigt aus und grinst mich flüchtig an, bevor er sich nach der Parksäule umsieht.
„Hey", sagt er, zieht mich kurz zu sich und küsst mich auf die Wange. Dann hält er weiter Ausschau. Ich umfasse mit einer Hand sein Kinn und justiere sein Gesicht entschieden so, dass er mir in die Augen schaut.
„Hey", erwidere ich, bevor meine Lippen sanft auf seine treffen und ich mich ausgiebig von ihm küssen lasse. Diesmal mit der Ruhe und Aufmerksamkeit, die ich mir von ihm erwarte.
Vincent leckt sich über den Mund, nachdem wir uns voneinander gelöst haben und lächelt mich niedlich verlegen an. Ich bin ihm natürlich nicht böse, aber die Mühe, mich vernünftig zu begrüßen, muss er sich schon machen. Er ist ja sozusagen noch in der Probezeit. „Gibst du mir bitte den Autoschlüssel?", frage ich. Vincent kommt meiner Bitte ohne weiteren Kommentar nach. Stattdessen joggt er auf die Parksäule zu, um sich ein Ticket zu ziehen.
„Wir können Hälfte, Hälfte bei den Parkgebühren machen", schlage ich vor.
„Äh, nein." Vincent lacht mich aus. „Wir machen nicht Halbe, Halbe. Oder ist das dein Auto?" Er zeigt auf seinen Wagen. Ich zucke ich die Schultern.
„Ich dachte, Mein ist Dein und Dein ist Mein." Schnell schnappe ich mir die Pizza aus dem Kofferraum und schließe die Klappe.
„Logo, aber doch nicht bei Parkgebühren. Außer du hast vor, meine Karre mit zu nutzen. Dann will ich aber deinen Prius dafür, gleiches Recht für alle." Er ist zu mir zurückgekehrt und küsst mich auf die Nasenspitze. „Du musst jetzt nix zahlen, das gleicht sich irgendwann schon wieder aus. Lädst mich mal auf 'nen Kaffee ein. Oder du bezahlst in Naturalien." Ein dreckiges Grinsen schleicht sich auf seine Züge. Als er mich an der Hüfte packt und hochhebt, fange ich an zu lachen.
„Pass auf, die Pizza", stoße ich eine Warnung aus. Vincent setzt mich wieder auf dem Boden ab und nimmt mir seinen Autoschlüssel aus der Hand.
„Lass uns raufgehen, bevor sie kalt wird."

Oben angekommen lässt mein Freund sich sofort auf meinen Bürostuhl fallen, und das so schwungvoll, dass er doch glatt ein paar Meter in Richtung Fensterfront rollt. Sein Blick schweift nach draußen und er pfeift durch die Zähne.
„Nette Aussicht."
Nach einem Seufzer stimme ich ihm zu. „Und praktisch nie eine Gelegenheit, sie zu genießen." Ich habe mir ein Stück Pizza genommen und setze mich auf seinen Schoß, schaue mit ihm gemeinsam aus dem Fenster. Er beißt hin und wieder von der Pizza ab, doch wir reden dabei wenig; genießen hauptsächlich die Ruhe an diesem Abend, lassen uns von den funkelnden Lichtern der Stadt beeindrucken. Ich fühle mich Vincent so verbunden in diesem Augenblick. Trotz der Stille; oder vielleicht, gerade weil wir nicht miteinander sprechen und uns scheinbar trotzdem wohlfühlen.
„Wieso ist alles mit dir bloß so viel schöner?", raunt er mir zu nachdem die süßesten Minuten verstrichen sind.
„Du bist verliebt." Ich schmunzle und küsse ihn.
„Kennste?", fragt er und ich lache leise.
„Vage", necke ich ihn, hauche einen Kuss auf seine Nasenspitze und stehe auf. Beim Strecken und Gähnen schließe ich die Augen, aber ich spüre, wie Vincent sich vor mich stellt. Und so lasse ich meine Arme sinken, bis meine Handgelenke auf seinen Schultern liegen und ich die Finger in seinem Nacken verschränke.
„Nervt dich das nie, kein abgetrenntes Büro zu haben, wo man auch mal die Tür zumachen kann?", fragt Vincent skeptisch. Er hat mich am Hintern gepackt und hebt mich hoch. Wir küssen uns, dann setzt er mich auf meinem Schreibtisch ab.
„Mich lenkt so schnell nichts und niemand von der Arbeit ab", wische ich seine Bedenken beiseite. Er grinst.
„Challenge accepted."
„Da verstehe ich keinen Spaß, Vincent", mahne ich ihn an, woraufhin er die Augen verdreht.
„Schon gut, ich respektiere deinen Eifer." Doch ehe ich mich versehe, grinst mein Freund auch schon wieder. „Trotzdem ..." Er schiebt meine Beine auseinander und tritt dazwischen. „Du hast Feierabend." Ich atme zittrig ein, als er meinen Hals küsst, fahre mit den Fingern durch seine Haare und gebe der Sehnsucht nach, die mich zu ihm hinzieht. Wir tauschen einen langen hungrigen Kuss. Vincents Hände wandern unter meinen Strickpullover. Sie sind warm und ich rutsche auf dem Tisch noch ein Stück nach vorn, löse seine Gürtelschnalle, ohne den Kuss zu pausieren. Das passiert erst, als er meinen Pullover so weit nach oben geschoben hat, dass er bloß noch lästig ist und ich ihn mir über den Kopf ziehe. Sein Blick fällt auf mein ausgestelltes Dekolleté. Ich lasse ihm einen Moment Zeit, aber dann nehme ich sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn, fordernder diesmal, drücke meine Mitte gegen seine - und erstarre, als ich ein Geräusch höre, das definitiv nicht unser Redaktionsgespenst verursacht hat, sondern ein Mensch. Jemand, der hier arbeitet.

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