45 - Nothing you can see, that isn't shown

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Am nächsten Morgen neben der Frau, die ich liebe aufzuwachen, ist fast, als würde sich mein Leben in einen nimmer endenden Traum verwandeln. Charlotte gähnt und streckt sich mit geschlossenen Augen. Ich beobachte, wie eine Gänsehaut über ihren beneidenswert schönen Körper huscht, denn die Decke verrutscht und ein kühler Wind fegt durch ihr Schlafzimmer. Auf dem Weg zur Morgentoilette habe ich die Balkontür geöffnet. Meine Freundin blinzelt, wischt sich den Schlaf aus dem Augeninnenwinkel und ein freudestrahlendes Lächeln schmückt ihr Gesicht, das sie mir zuwendet.

„Guten Morgen", schnurrt sie, bevor ich auch nur einen Ton rausbringe und überfällt mich mit einem Kuss, den ich in vollen Zügen genieße. Ihre Lippen sind zart, aber die Berührung birgt pure Intensität. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie sie es anstellt, aber sie zu küssen ist verdammt nochmal wie Schokolade zu essen. Du kannst nicht nach einem Stück aufhören, dafür ist der Geschmack zu süß, zu sinnlich.

„Morgen", erwidere ich sanft. Um meinen Finger wickle ich eine ihrer blonden Haarsträhnen und ziehe leicht daran. Ich will es schon wieder sagen, schlucke die Worte aber runter, schließlich kann ich sie nicht mit Liebesgeständnissen zuballern. Das käme komisch rüber. Und irgendwie braucht es diese Worte am Ende des Tages auch gar nicht. Ich will einfach nur in Liebe mit ihr existieren – von heute an für immer.
Charlotte stützt sich mit den Unterarmen auf meiner Brust ab. Sie sieht gähnend zum Fenster raus. Der kräftige Regen gestern hat dem Sommer einen Dämpfer verpasst. Heute ist der Himmel bewölkt, und ein laues Lüftchen streift nicht nur über ihren nackten Leib, sondern auch durch die Blätter der grünen Baumkronen, in denen die Vögel singen. Ich bändige die neue Gänsehaut auf Charlottes Rücken mit einer Berührung meiner warmen Hände; umarme meine Freundin und ihre Wange sinkt auf meinen Solarplexus.

„Wollen wir den Tag nicht lieber im Bett verbringen?", fragt sie mich leise und ihre Fingernägel fahren meinen Hals hinunter. So gern ich ja sagen würde: Bei mir steht ein Studiotermin an.
„Geht heute leider nicht." Ich drücke ihr einen entschuldigenden Kuss auf den Scheitel. „Ich muss noch arbeiten." Sie seufzt.
„Da kann man wohl nix machen." Sie schnuppert an meinen Haaren. „Duschen warst du auch schon ..." Sie vergräbt ihre Nase an meiner Halsbeuge.
„Lass uns einfach so bleiben", bitte ich sie. „Ich habe mir einen Wecker gestellt. Bis der klingelt, liegen wir hier bloß so, okay?" Charlotte lächelt mit funkelnden Augen und küsst mich.
„Na gut", murmelt sie, ehe sie sich von mir runterrollt und so nah an mich heranrutscht, dass wir zu zweit unter eine Decke passen. Ich streichle ihre Wange, küsse sie, drücke sie an mich ... Für immer hier liegen bleiben, ohne die leise Befürchtung im Hinterkopf, etwas zu verpassen. Das wär's.

+

Etwa anderthalb Stunden später habe ich mich in meinen Wagen gezwungen und lenke ihn aus der Parklücke auf die Straße. Meine Gedanken hängen noch immer bei meiner Freundin und dieser einmaligen Nacht. Dieses erste Liebesgeständnis ist seit jeher was Besonderes für mich gewesen, weil man diesen Moment als Paar kein zweites Mal miteinander teilt. Und gestern, klitschnass auf einem Kinderspielplatz ... Das war perfekt.

An einer Baustellen-Ampel bietet sich mir die Gelegenheit, den Chat mit Marlene am Handy rauszusuchen. Dag wird eh gleich alles haarklein von mir erzählt bekommen, aber vorher muss ich dem Bedürfnis endlich nachgeben, Lenny zu danken.

Du hast mir die Frau fürs Leben vorgestellt, weißt du das eigentlich?

Ich lege mein Telefon zurück auf den Beifahrersitz. Mit einem Lächeln im Gesicht, drücke ich aufs Gas, als die Ampel auf Grün springt. Heute wird ein geiler Tag. Erst befasse ich mich mit Nico und seinen Wünschen für die neusten Tracks, aber Dag hat Leute ins Studio eingeladen, was heißt, es wird weniger Arbeit am Nachmittag und mehr zusammensitzen mit Freunden. Eventuell ein bisschen Freestyle-Mucke, schließlich sind wir noch immer ein Haufen verrückter Typen, die vor allem für die Musik brennen. Mit heruntergelassener Scheibe und laut aufgedrehter Musik wechsle ich die Spur. Jeder Schmetterling in meinem Bauch hat selbst welche in seinem Bauch. Wenn sich Verliebtheit in Wahrheit so anfühlt, dann war ich vorher noch nie verliebt. Scheiße, dann hatte Dag all die Jahre über recht. Das muss ich ihm gleich mal mitteilen.

+

„Digga, weißt du, was mir auf der Fahrt hierher klargeworden ist?", falle ich mit der Tür ins Haus, als ich zur Begrüßung mit meinem besten Freund eingeschlagen habe. „Ich war ernsthaft noch nie in meinem Leben verliebt – bis jetzt." Dag schlürft seinen Kaffee.
„Sag ich doch", gibt er zurück und lacht. „Was ist passiert zwischen euch?", will er wissen, allerdings registriere ich, dass er immer wieder auf sein Handy guckt. Ständig tauchen neue Nachrichten auf dem Display auf.
„Ist das Sina?", frage ich ihn.
„Sie leitet in ihrem Studiengang ein Tutorium und beschwert sich über die Gruppe, die sie abbekommen hat. Ein paar von denen nerven sie krass. Egal, ich antworte ihr später." Er blinzelt und hakt erneut nach: „Was war zwischen euch? Oder hattest du einen deiner seltenen lichten Momente und hast aus heiterem Himmel endlich verstanden, dass du bis hierhin maximal verknallt warst?" Ich grinse ihn breit an.
„Ich hab ‚Ich liebe dich' gesagt – sie auch."

Dag erwidert mein Grinsen.
„Mega wichtiger Schritt, Alter, ich bin stolz auf dich."
„Nein, Mann, du verstehst das noch nicht: Ich hab's gefühlt. Ich hab's richtig gefühlt diesmal!"
„Doch, hab ich schon verstanden", versichert er mir. „Ich kann sowas sehen. Du bist glücklich mit ihr."
„Aber hallo ... Verdammt, sie macht mich so glücklich, ist das normal?", frage ich ihn. Er schmunzelt.
„Ich kenn's von Lexi und mir früher."
„Is' fett, Dicka", murmle ich. „Ich wünschte, ich würde mich immer so fühlen." Dag nickt.
„Besser als jeder Scheiß, den du konsumieren könntest, glaub mir."
„Glaub ich dir sofort." Ich klopfe ihm auf die Schulter und hole mir eine Tasse aus dem Schrank, die ich mit Kaffee aus der Glaskanne fülle. „Es ist wirklich das Beste, oder?", frage ich ihn.
„In diesem Leben auf jeden Fall", bestätigt Dag mit einem Augenzwinkern.

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