41 - Lay me down on a bed of roses

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Charlotte ist blass im Gesicht. Wir haben uns in ihrem Wohnzimmer eingefunden. Sie hat vorhin mit zittrigen Fingern Wasser für uns aufgesetzt, weil sie einen Tee trinken wollte. Ich habe ihr die Zubereitung abgenommen, als sie beinah die Tasse von der Anrichte runtergestoßen hätte. Daraufhin ist sie kurz in ihr Schlafzimmer verschwunden und ein paar Minuten später wiedergekehrt.
Sie sitzt jetzt neben mir und schweigt, und ich versuche ihr Zeit zu geben. Gleichzeitig beunruhigt es mich, dass sie gar nichts sagt. Natürlich wäre es noch schlimmer für mich, sie weinen zu sehen, auch wenn ich da heute wohl nicht mehr drum herumkomme. Ihre Ankündigung im Auto glich eher einer handfesten Prophezeiung.

„Du wolltest mir doch was erzählen", schneide ich vorsichtig an, was sie beschäftigt. Charlotte schluckt und öffnet langsam ihre Hand, die sie zur Faust geballt hatte, schon seit sie neben mir Platz genommen hat. Ich erblicke ein silbernes Amulett. Es ist wunderschön, mit einer ganz feinen Gravur, die blühende Rosen darstellt. Und es lässt sich aufklappen. Charlotte drückt einen schmalen, mechanischen Knopf an der Seite. „Darf ich?", frage ich leise. Sie nickt. Ich halte meine Hand auf und sie lässt die Kette hineinfallen.

Im Innern zeigt ein Foto einen älteren Teenager, vielleicht ist er so achtzehn. Blonde Bartstoppeln sprießen auf seinem Gesicht und seine hellen Augen funkeln. Er strahlt auf diesem Miniaturportrait.
„Du willst wissen, wer das ist", höre ich meine Freundin sagen und reiße mich von den einnehmenden Augen des Jungen los. Ich antworte ihr nicht. Charlotte blinzelt mehrfach und ihr Atem beschleunigt sich. Ich sehe die Tränen, die sich in ihren Iriden sammeln.
„Hey, guck mich an, okay?", befehle ich ihr sanft und nehme ihr Gesicht in meine Hände, presse das Metall des Amuletts an ihre Wange. Sie sieht so traurig aus. Ich spüre, wie Panik in mir hochkriecht. Keine Überforderung jetzt, Vincent, reiß dich zusammen, heische ich mich an. Charlotte bemerkt wohl, dass ich ein wenig Angst habe vor dem was kommt. Sie presst ihre roten Lippen erst aufeinander, dann auf meinen Mund.
„Schon in Ordnung", meint sie nun mit festerer Stimme, als wir uns voneinander lösen. „Ich habe noch nie jemandem davon erzählt. So weit war ich mit meinen Ex-Freunden einfach nie, aber ich will, dass du es weißt." Eine Hand legt sie an meine Wange. Gedanklich streiche ich gerade die Möglichkeit durch, dass es sich bei dem Typen auf dem Foto um einen ihrer Ex-Freunde handelt, da spricht sie weiter. „Das ist ..." Charlotte atmet noch einmal tief ein. „Das ist mein Bruder. Justus."

Die Panik in mir beginnt, stärker zu brodeln. Das ist nicht gut.
„Er war nicht beim Essen", krächze ich. Meine Freundin setzt zu einer Erwiderung an, doch dann klammert sich ihr Blick nur an meinen Augen fest. Ich versuche, meine Anspannung ihr zuliebe runterzuschlucken. „Warst du schon immer Einzelkind?", frage ich sie. Die Antwort kostet sie bloß ein Nicken oder Kopfschütteln und ich lasse meine Hände über ihre Seiten nach unten gleiten, bis sie auf ihrer Hüfte aufliegen. Charlotte fährt mit dem Fingerknöchel ihres Zeigefingers zart über meinen linken Wangenknochen.
„Ja", haucht sie. Ihre Antwort überrascht mich, meine Augenbrauen Zucken nach oben. „Die Geschichte ist etwas komplizierter als: ‚Mein Bruder starb bei einem Autounfall'", meint sie. „Was ... Was ein wirklich schweres Schicksal ist, bitte versteh mich nicht falsch." Sie nimmt ihre Hand von meinem Gesicht weg, zieht sich körperlich insgesamt etwas zurück, wischt sich über ihre feuchte Augenpartie. Charlotte starrt die gegenüberliegende Wand an, während meine Augen auf sie gerichtet sind. „Ich habe Justus nie kennengelernt. Ich meine nicht, ich war ein Baby, als er starb." Sie schüttelt den Kopf und als sie den nächsten Satz ausspricht, klingt sie so schwermütig, wie ich sie noch nie erlebt habe: „Ich meine, er war schon tot, bevor ich geboren wurde."

Ihr Gesicht wendet sie wieder mir zu, prüft mich mit ihrem Blick, aber genau in diesem Moment erfasst mich eine Ruhe, weil mir klar wird: Ich muss ihr erstmal nur zuhören. Das kriege ich hin. Anscheinend bestehe ich ihren Test damit. „Meine Eltern waren beide vierunddreißig, als ich geboren wurde." Für diese Generation ist das etwas spät, schießt es mir durch den Kopf. Meine Mutter hat mich mit fünfundzwanzig bekommen. „Und du hast ja heute gehört, sie sind zusammen, seit sie sechzehn waren. Sehr bald nachdem sie ein Paar wurden, haben sie versehentlich meinen Bruder gezeugt." Sie atmet langsam aus. Obwohl sie von mir abgerückt ist, entschließe ich mich doch, ihr einen Arm um die Schultern zu legen und fische außerdem die flauschige Decke von der Sofalehne, die ich über uns ausbreite. Charlottes Haltung weicht sich auf und sie lehnt sich gegen mich. Sie legt ihren Kopf bei meiner Halsbeuge ab. Ich streichle ihren Oberarm in kleinen kreisenden Bewegungen mit dem Daumen. „Wie du dir ja denken kannst, haben sie sich entschieden, das Kind zu behalten. Ihre Eltern wollten aber mit nichts helfen. Sie waren schockiert, fürchteten um ihren Ruf, und sowohl meine Mutter als auch mein Vater wurden von ihren Familien verstoßen. Danach brach eine harte Zeit für sie an. Beide haben gearbeitet, um irgendwie ihr Baby ernähren zu können und glückliche Zufälle und ein paar großzügige Menschen haben dafür gesorgt, dass es Justus an nichts fehlte. Jedenfalls auf der leiblichen Ebene." Sie legt eine Pause ein und greift nach ihrer Teetasse auf dem Couchtisch. Ich trinke auch einen Schluck aus meinem Wasserglas. Sie räuspert sich. „Aber meine Eltern waren damals Teenager, und obwohl sie die schwierige Situation irgendwie gestemmt haben, hatte mein Bruder keine ideale Kindheit. Meine Eltern hatten mit sich selbst zu kämpfen, auch damit, dass sie aus ihrem Zuhause verbannt worden waren und nicht zurückkonnten, weil sie den Kontakt zu meinen Großeltern im Laufe der Jahre verloren hatten. In all diesem familiären Schmerz und der chronischen Überarbeitung ist Justus aufgewachsen." Wieder stockt sie, sieht auf ihre angewinkelten Knie unter der Decke. „Mit siebzehn hat er sich das Leben genommen", haucht sie und ich habe das Gefühl, die Temperatur in ihrem Wohnzimmer ist um ein paar Grad gesunken.

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