12 - Mohnloser Morgen

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Der Sonntagmorgen nach der Party beginnt, als Marlene mich gegen elf aus dem Bett schellt. Ich gebe zu, wenn es nicht ihr letzter Tag hier wäre, hätte ich wahrscheinlich gnadenlos bis fünfzehn Uhr durchgeschlafen. Aber sie ist meine beste Freundin, wie könnte ich sie auf dem Trockenen sitzenlassen?

Müde reibe ich mir die Augen und wanke gähnend in den Flur. Ich lasse Marlene unten rein und will die Tür oben schon mal für sie öffnen, stoppe jedoch mitten in der Bewegung und drücke sie zurück ins Schloss. Zwar haben Marlene und ich gestern, als wir uns am Hotel verabschiedet haben, festgelegt, dass sie genau jetzt bei mir auftauchen soll, damit wir noch ein letztes Mal zusammen frühstücken können. Doch da ist jemand, dem ich es inzwischen doch zutrauen würde, unangekündigt bei mir aufzutauchen - Gio.

Ein Schauer läuft mir den Rücken runter und ich starre auf meine Hand, mit der ich die Klinke umklammere. Wieder klingelt es, diesmal allerdings auf meinem Stockwerk. Mein Herz klopft und ich wappne mich. Während ich auf die Zehenspitzen gehe, kneife ich ein Auge zusammen und spähe mit dem anderen durch den Türspion.

Es ist Marlene.

Langsam rolle ich zurück auf meine Fußsohlen, atme ein weiteres Mal tief ein und aus. Erst dann öffne ich die Tür. Meine Freundin setzt ein strahlendes Lächeln auf, das ich noch nicht so recht erwidern kann. Mir ist mulmig zumute. Gestern habe ich mir selbst geschworen, dass ich meine Ängste, was Gio betrifft, ein- für allemal ablege. Er ist Geschichte. Ich bin in Sicherheit.

„Hast du schlecht geträumt?", fragt Marlene spottend und schiebt sich an mir vorbei in den Flur. Ich schließe die Tür hinter ihr. „Du bist so blass, als hättest du gerade einen waschechten Geist gesehen." Kurz legt sie die Stirn in Falten und mustert mich prüfend. „Oder als wärst du selbst einer. Was ist los?" Wahrscheinlich sollte ich ihr sagen, was ich mir für abgefuckte Filme fahre, aber ich will mir nicht nochmal die Blöße vor ihr geben. Sie hat mich gestern schon die Leviten gelesen, weil ich mir hanebüchenes Zeug einrede. Nochmal brauche ich das nicht.
„Ich bin noch nicht richtig wach", antworte ich deshalb und fasse mir an den Kopf. Marlene nickt verständnisvoll.
„Tja, das ist das Gute an kleinen Kindern: Sie reparieren zuverlässig deinen Biorhythmus für dich. Komm mit, wir brühen dir eine Tasse Kaffee auf." Ich nicke meinungslos und folge Marlene in meine Küche.

Sie lässt eine Tüte Brötchen auf den Tisch fallen, die ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt habe. „Das ist eine kleine Auswahl", informiert sie mich. „Kürbiskern, Käse, Schusterjunge, Vollkorn, und für jede von uns ein stinknormales Weizenbrötchen." Ich muss leicht schmunzeln.
„Mohn ist meine Lieblingssorte", informiere ich sie. Marlene rümpft die Nase.
„Mohn? Wirklich?" Ich lache.
„Was hast du gegen Mohnbrötchen?"
„Ach, nichts", winkt sie ab und ich wende mich dem Wasserkocher zu.
„Ich mache uns eine French Press, okay?" Marlene ist jedoch an meine Seite geeilt und platziert ihre Hände auf meinen Schultern. Sie lenkt mich in Richtung Esstisch.
„Nein, du setzt dich hin."
„Du bist bei mir zu Gast", protestiere ich.
„Hm, was denkst du, wer von uns beiden hat gerade mehr Energie?" Sie lächelt aufmunternd und drückt mich auf einen der vier Stühle.

Ich ergebe mich, fahre mir mit einer Hand durch mein zotteliges Haar und frage: „Wann genau geht dein Zug?"
„Erst um siebzehn Uhr, ich werde vom Hotel aus hingebracht. Vincent war so freundlich und hat versprochen, den Chauffeur für mich zu spielen." Als sie ihren gutaussehenden Kumpel erwähnt, grinse ich automatisch. „Apropos!" Sie fährt zu mir herum und schwingt den Kaffeelöffel durch die Luft. „Ich bestehe darauf, dass ihr einander näher kennenlernt."

„Und wieso bestehst du darauf?", frage ich sie herausfordernd. Marlene kippt das heiße Wasser in die French Press. Die Glaskanne und zwei Tassen stellt sie vor mir ab. Eindringlich sieht sie mir in die Augen.
„Weil ihr wirklich extrem gut zusammenpassen würdet." Das Wörtchen extrem zieht sie dabei nochmal deutlich in die Länge. „Er ist ein Goldschatz, aber er hat auch ein paar schlechte Qualitäten, die du ihm sicher austreiben würdest. Und umgekehrt genauso."
„Umgekehrt?", sage ich und spiele ich die Empörte. „Ich habe ausschließlich gute Qualitäten."
„Im Gegensatz zu dir weiß Vincent, dass soziale Kontakte keine Zeitverschwendung sind, Charlotte, und er nimmt das Leben leichter." Ich lache schnaubend und drehe die leere Tasse in meinen Händen. Marlene schiebt noch einen Porzellanteller zu mir rüber. Sie hat in ihrem geschäftigen Eifer meinen Kühlschrank geplündert. Inzwischen tummeln sich Marmeladengläser, zwei Packungen Käse und Aufstriche vom Griechen auf dem Tisch.

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