54 - Vertrauen

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Sag was, Charlotte. Sag etwas.

Ich verkneife mir einen Laut, der bloß wie ein freistehendes Fragezeichen klingen würde. Aber die Stille vergrößert sich, und wenn ich den Mund nicht bald aufmache ... So endet unsere Geschichte aber verdammt nochmal nicht.

Nicht so!

Nicht, während ich auf ihm sitze – bekleidet mit nichts weiter als seinem Kapuzenpullover – und während meine Wangen noch rosig glühen von der Hitze zwischen uns, die sich erst nach und nach verflüchtigt.

Das ist nur der Moment, in dem die Seifenblase zerplatzt. Kein rosarotes Schillern mehr. So oft habe ich das schon erlebt. Bei Vincent habe ich mich sogar ein bisschen darauf gefreut. Denn das ist der Punkt, an dem alles in eine völlig andere Richtung kippen könnte. Da ist dieses Bauch-Herz-Kopf-Chaos, das mit jeder Sekunde, in der wir die Entscheidung weiter hinauszögern, zunimmt. Aber ich für meinen Teil weiß genau, was ich will. Wirklich diesmal. Ich will meinen Freund, und ich will ihn für immer.
Es ist nicht nur an ihm, seinen inneren Schweinehund zu besiegen. Wann immer er mir bisher von anderen Frauen berichtet hat, Frauen aus seiner Vergangenheit, kocht heißes Pech in mir, tiefschwarze Missgunst. Er konnte das spüren, ich bin mir da sicher. Deswegen leckt er sich in diesem Augenblick zögerlich über die Lippen.
Aber es geht nicht anders.
Genauso wie ich hat auch er eine Geschichte, mit der ich vertraut sein möchte. Gerade weil ich vorhabe, diesem Mann den Rest meines Lebens zu schenken.

„Okay, reden wir darüber", sage ich also leise und streichle seine Wange mit dem Daumen. „Siehst du sie manchmal, wenn du mich anschaust?" Vincent schüttelt langsam den Kopf. Das alles irritiert ihn sichtlich, er blinzelt viel.
„Ich erinnere mich aber oft an sie, wenn wir zusammen sind. Daran, wie sie war", erklärt er stockend. „Wie ich mit ihr war. Und es kommt vor, dass ich dabei vergesse, dass du eigentlich neben mir sitzt." Er senkt die Stimme zum Ende hin immer mehr. „Oder auf mir ..." Seine Lider folgen seiner Tonlage, schamschwer, und er atmet hörbar aus. „Charlotte, ich will unbedingt, dass das hier funktioniert. Ich will dich nicht verletzen, und ich will nicht verletzt werden. Und ich weiß, dieser Wunsch wird niemals in Erfüllung gehen, weil es normal ist, in einer Beziehung Konflikte vernünftig miteinander auszutragen. Es ist sogar notwendig." Er macht eine Pause, in der ich von ihm runtersteige, weil ich schleichend realisieren, dass das gar nicht mehr passend ist. Meinen Kopf bette ich stattdessen auf seine Brust. Ich lege meine Hand flach auf seinem Bauch ab. „Eine Beziehung ist harte Arbeit." Vincent schluckt. „Nach Maria musste ich mich mit dem Thema Vertrauen nicht mehr großartig auseinandersetzen, das hab ich mir jedenfalls eingeredet. Seit du mir über den Weg gelaufen bist, wird mir immer bewusster, dass ich Schwierigkeiten damit habe. Ich mach mir echt Sorgen deswegen."

Ich räuspere mich vorsichtig und luge zu ihm auf.
„Das hört sich für mich an, als bräuchtest du ein bisschen Zeit für dich." Vincent streichelt geistesabwesend mein Haar. Er überlegt. Ich lasse ihn, obwohl ich mit jeder Sekunde unruhiger werde.
„Ich werde noch eine Weile brauchen, um das zu verarbeiten, ja", erwidert er schließlich. „Ich glaube, ich hab mich nie ausreichend damit befasst. Sie hatte ihre Gründe, warum sie mich betrogen hat."

„In zwischenmenschlichen Beziehungen passiert so viel, dass die Vorwürfe, die man sich nach einer Trennung gegenseitig macht, nicht ausreichen, die Gesamtheit all dessen adäquat abzubilden", sinniere ich und dann ploppen die Worte einfach so aus meinem Mund. „Als Marley mich betrogen hat, war es, weil ich ihm dauernd Druck gemacht habe. Ich wollte, dass er sich pusht, dass sein Leben nicht länger an seiner Krankheit hängt. Es wurde schlimmer, und ich dachte anfangs noch, es müsse erst schlechter werden, bevor es besser werden kann. Dann hat ihm seine Therapeutin Anti-Depressiva verschreiben müssen, ohne die er es nicht mehr aus dem Bett und zur Arbeit geschafft hätte. Ich dachte ehrlich, dass ich ihn nur geduldig immer weiterbearbeiten muss. Diamanten werden unter Druck gepresst", bemühe ich eine hohle Metapher. „Wenn ich heute darauf zurückblicke, kann ich selten mehr aus dieser Erinnerung für mich ziehen als die bloße Erkenntnis meiner früheren Naivität und Engstirnigkeit. Ich wäre in dieser Hinsicht gern perfekt gewesen. Die perfekte Partnerin für ihn. Und heute ertappe ich mich hin und wieder bei dem Versuch, wie ich auch für dich die ideale Geliebte sein will."

„Das bist du schon." Er lächelt, doch ich kann es ihm nicht spiegeln.
„Niemand ist perfekt."

Vincent legt sich einen Arm über die Augen und atmet durch.

„Stimmt", erwidert er schließlich. „Danke, dass du mir davon erzählt hast. Als Maria und ich das zweite Mal zusammenkamen, dachte ich, ich bin genau der Richtige für sie. Ich hab ihr eine andere Perspektive auf ihr Leben geschenkt. Sie war sonst sehr ernst, aber ich konnte sie immer zum Lachen bringen. Und ich fand ihr Lachen wirklich toll. Sie sah wunderschön aus in den Momenten, in denen sie gelacht hat. Ich hab mir oft eingeredet, dass das wohl genügen wird. Hat es nicht. Wir haben irgendwann aufgehört, miteinander zu lachen und hatten bloß noch entweder Sex oder haben gestritten. In der Zeit hat sie offenbar festgestellt, dass sie was anderes für ihr Leben will. Ich wusste das auch; also, dass ich etwas anderes will. Aber sie hat's durchgezogen. Sie konnte dazu stehen. Ich bin tief gefallen nach der Trennung. Da hab ich erst gemerkt, wie krass ausgeprägt mein Ego war und dass ich ihre Liebe für selbstverständlich genommen hatte."

„Klingt für mich, als könntest du das ziemlich gut reflektieren", murmle ich. Vincent stößt einen langen Seufzer aus.
„Der Liebeskummer danach war richtig schlimm, ohne meine Freunde hätte ich das nicht geschafft. Ich musste mich zwangsläufig damit auseinandersetzen. Aber bis jetzt war da so viel Wut, so viel Hass, so viel Kränkung ..."
„Ihr habt einander nicht gutgetan", bekräftige ich erneut.
„Nein, haben wir nicht."

Vincents Atem stockt, seine Augen werden glasig. Doch schon im nächsten Augenblick blinzelt er, und als seine Lunge die eingesogene Luft wieder freigibt, bahnt sich noch etwas seinen Weg nach draußen. Er hat Frieden geschlossen mit dem Ende seiner letzten Beziehung. Hier, genau in diesem Moment. Unsere Blicke treffen sich.

„Ich ...", beginnt er. „Tut mir leid, dass ich –"
„Nichts muss dir leidtun", versichere ich ihm und küsse ihn auf die Wange. Mein Freund schaut mir prüfend ins Gesicht, doch dann regt sich etwas in seiner Miene, das ich zuvor noch nie darin erspäht habe – wahres Mitgefühl.

„Das war auch für dich kein leichter Tag", stellt er fest. Ich schüttle den Kopf.
„Ist aber egal", urteile ich. „Diese Grenze vor Freddy zu ziehen war wichtig ... Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich bin jetzt doch gegen Frust-Sex und mehr für Kuscheln auf der Couch bei einer Tasse Tee."

„Chacha?"
„Hm?", summe ich. Mehr bringe ich nicht zustande, meine Kehle ist völlig ausgetrocknet. Er hat recht. Das war kein leichter Tag.
„Ich weiß das zu schätzen. Mit Freddy. Mehr als du das im Moment verstehen kannst." Darauf folgt nichts mehr. Und nachbohren kann ich nicht, mir fehlt heute die Kraft. Ich berge stattdessen mein Gesicht an seiner Brust, atme seinen Eukalyptus-Duft ein ...

Vincent hat ein Geheimnis vor mir.

Aber zum ersten Mal scheint mir das in Ordnung zu sein. Denn zum ersten Mal erwächst solides Vertrauen in mir. Sobald die Zeit reif ist, wird er mir die ganze Geschichte erzählen. Darauf kann ich mich bei ihm verlassen. Das hat er mir gerade bewiesen.


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