35 - Sie kriegen von ihm nie genug

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Im Studio erwartet mich nicht nur ein Haufen Arbeit sowie mein Bandkollege – auch wenn ich den oft zu dem Haufen Arbeit mit dazuzähle. Sina sitzt halb auf Dag und halb auf der Couch, als ich die Bildfläche betrete. Schnell halte ich mir die Augen zu.
„Alle angezogen?", frage ich. „Ich muss nur kurz vorbei und an meinen Schreibtisch."
„Morgen, Dicka, Augen auf. Wir wollen ja nicht, dass du blind stolperst und dich auf die Schnauze packst", erwidert mein Kumpel.
Ich schlage die Lider auf. Mein bester Freund grinst mich an. Sina hat sich übertrieben brav hingesetzt, die Beine über Kreuz, den Rücken durchgedrückt, ein unschuldiges Lächeln auf den Lippen. Ich lache, weil all das nichts daran ändert, dass ihr Lippenstift völlig verschmiert ist und der v-förmige Ausschnitt ihres T-Shirts tiefe Blicke genehmigt. „Gib dir keine Mühe, Cou-Sina."
„Einfach Sina", kommentiert sie ihren Spitznamen verärgert. Dag schmunzelt und legt einen Arm um sie.
„Gib dir keine Mühe, Sina. Er wird nie damit aufhören", lässt er sie wissen und betont ihren Namen dabei besonders. Im nächsten Moment küsst er sie. Anstatt den beiden weiter beim Rummachen zuzugucken, falle ich auf meinen Stuhl und schalte sämtliche Technik ein.

„Diggi, jetzt, wo dich die Muse küsst: Wie weit bist du mit deinem Part?" rufe ich nach Dag.
„Mann, Vincent. Nerv doch nich' so. Ich bin ja dran."
„Ich seh's", erwidere ich, drehe mich mit dem Stuhl um und starre vorwurfsvoll auf seine Hand, die er auf Sinas Arsch platziert hat. Dag schnalzt mit der Zunge, schiebt sie von sich runter, lästert vermutlich leise über mich, denn sie schmunzelt, und erhebt sich letztlich. Als er sich zu mir gesellt, bedeute ich ihm, dass er die Lauscher aufsperren soll. Dann spiele ich den Beat ab, an dem ich seit einiger Zeit im Geheimen gefeilt habe.
„Knorke, mein Lieber", lobt er mich und schiebt noch hinterher: „Schon was getextet?" Ich schüttle den Kopf. Gerade will ich ihm erklären, dass ich aber eine konkrete Idee habe, da unterbricht er mich. „Dicka, ich dachte, du wirst neuerdings auch von der Muse geküsst", spottet mein bester Freund. Ich verdrehe die Augen über seinen Scherz.

„Die Muse will, dass ich ihre Eltern kennenlerne", murmle ich. Dags Augen werden groß.
„Ey, ihr habt doch schon alle Rekorde gebrochen. Müsst ihr das Tempo noch mehr anziehen?"
„Wenn's nur nach mir ginge, würde ich mit der Kennenlern-Scheiße abwarten, das kannst du mir glauben. Aber ich schätze, das ist ihr echt wichtig. Sonst war ich ja immer die treibende Kraft bei allem. Der Vorschlag, was Festes draus zu machen, kam von mir." Ich sauge die Unterlippe zwischen die Zähne.
„Und jetzt wiegt sie sich in Sicherheit", wirft Dag treffend ein.
„Is' ja nich' so, dass sie das nicht dürfte, Alter. Ich weiß nur nicht, ob ich schon bereit bin für dieses Treffen mit meinen zukünftigen Schwiegereltern."

„Ach, komm, Vincent." Mein Kumpel fegt meine Zweifel mit einer Handbewegung beiseite. „Du wolltest direkt die Beziehung mit ihr, da kanntet ihr euch drei Tage. Und du weißt doch, was da alles mit dazugehört. Die Kennenlern-Scheiße halt auch."
„Ja, denkst du, an ihre Familie hab ich gedacht, nachdem ich sie dreimal durchgenommen habe, in der Nacht, in der ich beschlossen habe, dass ich sie zu meiner Freundin machen will?", gebe ich verärgert zurück. Er lacht frech.
„Du bist in emotionaler Hinsicht so 'ne Hohlbirne, unglaublich. Mann, wenn ihre Familie ihr wichtig ist, dann spring über deinen Schatten für sie. Sie wird's dir ja wohl wert sein, so wie du auf sie fliegst."
„Toll. Ich bin ganz versessen drauf", brumme ich.
„Klemm dir deinen Sarkasmus, Junge." Er stützt sich auf der Schreibtischplatte ab und ich werde beim Anblick seiner Arme unwillkürlich daran erinnert, dass am Freitag Kraft- und Kondi-Training auf dem Plan steht. „Vielleicht sind ihre Eltern cool. Charlotte stammt immerhin von den beiden ab", fährt Dag fort.
„Ich stamme auch von meiner Mutter ab, das Argument zieht also schon mal nicht", entgegne ich hartnäckig und öffne meinen Kalender.
„Fahr dein Ego runter. Du nörgelst bloß."

Ich schweige und wende mich dem Monitor zu. Morgen muss ich meine Eltern anrufen und Freitag nach dem Training hab ich theoretisch Zeit. Da könnte ich ihnen Charlotte vorstellen. Eigentlich keine schlechte Idee von ihr, das direkt zu erledigen, nachdem Mama ja letztens noch am Telefon bekundet hat, dass sie die Frau an meiner Seite kennenlernen möchte, bevor ein halbes Jahr vergangen ist. Gar kein Bock auf Stress mit ihr. Wenn ich sie nach nur zwei Wochen mit meiner Freundin bekanntmache, hat sie hoffentlich nichts zu meckern. Ach, Vincent, wem willst du was vormachen? Deine Mutter hat immer Grund zu meckern. Ich stöhne innerlich.

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