60 - Atlantik, Pazifik, aber nie genug Meer

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Ich lasse es zu, dass Vincent mir aus meinem Trenchcoat hilft. Er sieht nicht aus, als hätte er viel geschlafen zuletzt. Ich dagegen habe mich jeden Tag direkt nach der Arbeit ins Bett gelegt.

Er ist nicht der Einzige, der tagelang nichts von mir gehört hat. Ich weiß, dass meine Eltern sich Sorgen machen, aber das war mir gleichgültig zuletzt. Diese Situation verlangt unumstößlich von mir, mich mir selbst zuzuwenden. Hätte ich mich nicht um mich gekümmert, wäre ich hier und heute direkt vor seinen Augen in Tränen ausgebrochen. Aber ich habe mir geschworen, dass ich das nach Streitereien solcher Tragweite nie wieder mache, nie wieder so einknicke. Und ich halte mich an meine Versprechen - insbesondere an die mir selbst gegenüber.

Solange Vincent uns Wasser aus der Küche beschafft, gehe ich einige Schritte ins Innere seiner Wohnung, lasse mich auf seine gemütliche Wohnlandschaft sinken. Musik dringt aus der Soundbar unter dem Fernseher. Das ist fast immer so, wenn ich ihn besuche. The Miseducation of Lauryn Hill. Wenn ich ein Lieblingsalbum habe, dann dieses. Ich kann mich nicht daran entsinnen, dass ich das mal erwähnt hätte. Vielleicht ist es eine Art Zeichen.

Sanft drücke ich meine Hände in die Polster und rutsche ein Stück nach hinten auf dem Sofa, sodass ich mich anlehnen kann, lausche dem Lied ...

Es war klug, sich bei ihm zu treffen, statt ihn zu mir einzuladen. Schließlich weiß ich nicht wie unser Gespräch heute ausgehen wird. Das kommt drauf an, wie er sich zu allem äußert. Meine Wohnung ist mein Refugium. Ich habe es nicht so gern, wenn schlechte Erinnerungen Monate später noch in meinen Möbeln vor sich hin siechen. Da minimiere ich das Risiko, mein Zuhause wieder mal umdekorieren zu müssen, besser von vornherein. Ich kann jedenfalls nicht ausschließen, dass wir uns womöglich trennen.

Vincent kehrt mit zwei Gläsern aus der Küche zurück. Eins davon reicht er mir, ehe er sich zu setzt und sich räuspert.
„Ich habe mich mit Antonia getroffen. Wir sind nicht länger befreundet."

Um diese Information zu verarbeiten, brauchen meine Synapsen eine Weile. Eigentlich ist Vincent mir so vertraut und trotzdem kommt es mir vor, als säße in diesem Moment eine geläuterte Version von ihm vor mir. Er schaut mich ohne Scheu aus seinen braunen Augen an. Ich erkenne darin, dass er Angst hat vor dem, was kommt, das Gold seiner Iris flackert verräterisch. Aber ich entdecke keine Scham in seinen Zügen.
Aus gewohnter Härte verschränke ich die Arme vor der Brust. Es ist ein Automatismus, so wie es meine mechanischen Entschuldigungen sind, oder die Gewaltschübe, wenn ... Keine sinnlose Selbstanklage, ermahne ich mich.

„Nichts liegt mir ferner, als deine Freunde in den Dreck zu ziehen", stelle ich deutlich klar. „Dass ihr eure Freundschaft ad acta legt, wollte ich bestimmt nicht erreichen." Er nickt kaum merklich; glaubt mir. „Gleichzeitig war das alles so hochgradig unangemessen, dass ich dich belügen würde, würde ich behaupten, dass mich das nicht beruhigt, und sogar ein bisschen freut. Ich missgönne dir diesen Spaß, und ich werde das auch nie lockerer sehen: Fremdzuflirten ist überflüssig. Du bist vergeben."

Vincent erwidert: „Ich wollte dir noch sagen, ich fand das schon auf der ersten Party richtig uncool von ihr, dass sie einfach so vor dir rausposaunt hat, dass sie und ich mal was miteinander hatten. Danach hätte ich ihr direkt eine Ansage machen müssen. Es war meine Sache, dir davon zu erzählen."

„Ich hätte es so oder so gemerkt", werfe ich ein. „Schließlich standest du so unter ihrer Fuchtel, dass du selbst wie ein Vögelchen gesungen hast an dem Abend. Über das gewisse Extra in eurer Freundschaft." Das Extra würze ich mit einer extra Prise Ekel, ich kann eben nicht aus meiner Haut.
An sich geht es mich nichts an - jedem Tierchen sein Pläsierchen. Aber Freundschaft mit gewissen Vorzügen? Das ist sozusagen die Antithese zu Nägel mit Köpfen. Ganz genau das hasse ich so sehr daran.
„Du hast dich doch mindestens genauso schlimm wie sie verhalten auf der Party", fauche ich. „Schlimmer, wenn du mich fragst."
Sein Blick wandert zum Fenster, während er lautlos seufzt. Er blinzelt mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn gegen das helle Grau an, bevor er seinen Mut neu entdeckt und sich mir erneut zuwendet.
„Hör mir zu", fordere ich ihn eindringlich auf. „Flirten mit anderen Frauen ist eine Red Flag. Du kannst dich zusammennehmen oder damit weitermachen, soll mir gleich sein. Aber egal, wie du dich entscheidest, sei dir im Klaren darüber, dass es Konsequen-"

So genialWo Geschichten leben. Entdecke jetzt