16 - Just

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Bereit für die Nachtruhe liege ich auf meinem Bett. Aber ein seltsames Gefühl hat sich bei mir eingestellt, und ich möchte noch nicht schlafen. Das Date mit Vincent ist nahezu perfekt gewesen. Dennoch muss ich gestehen, es behagt mir nicht, dass er sich vorhin gegen einen romantischen Kuss im silbrigen Mondschein entschieden hat. Einen letzten Hauch von dieser subtilen Fuckboy-Attitüde hat sein Verhalten noch immer. Ich fand den schüchternen Wangenkuss am Ende ja wirklich süß, aber das könnte seine Masche sein; es muss jedenfalls nichts zu bedeuten haben.

Mein erster Eindruck von den wenigen auserwählten Männern, mit denen ich mich auf zeitraubendes, intensives Dating einlasse, täuscht mich nicht oft, und Vincent ist ein unfassbar toller Kerl. Er ist schlau, witzig und sieht gut aus. Das hat sich heute wieder bestätigt. Seine Art sagt mir zu. Bloß vor seiner Offenherzigkeit, habe ich zugegeben ein bisschen Schiss. Er macht keinen Hehl daraus, dass er auf mich steht. Nur manchmal ist es komisch für mich, wie cool er damit zu sein scheint, so völlig angstfrei. Als würde er sich nicht die allergrößten Hoffnungen bei mir machen und ich bin mir unsicher, wie ich ihm vermitteln soll, dass er sich die aber machen dürfte, wenn's nach mir ginge. Kurzentschlossen schnappe ich mir mein Handy und schicke ihm eine Nachricht

Hey, na :) Bist du wohlbehalten zu Hause angekommen?

Vincents Status wechselt sofort auf „online" und dann auf „schreibt ..." Ich warte geduldig.

Jap, von dir zu mir zu fahren war ziemlich easy-peasy, ich musste nur einmal umsteigen und bin gerade zur Tür rein :D Du bist noch wach?

Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen, während ich ihm antworte. Ich stehe auf, laufe tippend durch meinen Flur in die Küche und hole mir ein wenig Obst. Der Heißhunger packt mich nachts manchmal und ich gebe dem Drang vielleicht ein paarmal öfter nach, als ich sollte. Ich schreibe:

Ja, ich habe noch was für die Arbeit erledigt. Vor dem Schlafengehen fällt mir die Überarbeitung meiner Artikel am leichtesten. Da ich damit aber jetzt durch bin, werde ich mir vermutlich noch eine Folge Game of Thrones reinziehen.

Guten Seriengeschmack hast du also auch <: Nach dem ereignisreichen Tag noch ein wenig auszuspannen, klingt gar nicht verkehrt. Ich glaube, ich nehme mir ein Beispiel an dir. Jetzt ist die Frage nur ... Hörbuch oder selber lesen?

Du kannst lesen? :P

Klar, schon voll lange. Und meine Mama hat mir letztes Jahr ein Buch ohne Bilder zum Geburtstag geschenkt. Da habe ich mich nie rangetraut, aber heute fühl ich mich so energiegeladen. Weißt du, was ich meine?

Weiß ich c: Falls mir mitten in der Folge mal langweilig werden sollte, kann ich dir dann hier nochmal auf den Keks gehen?

Nur, wenn ich dir dann auch schreiben darf. Wie gesagt, das Buch hat keine Bilder :(

Das darfst du sehr gern.

Ich lösche den Punkt am Satzende und ersetze ihn durch ein Herz. Irgendwie sieht das passender aus.

😘

Lächelnd schließe ich den Chat. Das würde ich als Erfolg verbuchen.

+

Ich bin vollkommen in die Handlung der GOT-Episode vertieft, als mein Handy aufleuchtet. Fast automatisch pausiere ich Tyrion Lannister genau vor der Pointe seines Witzes.

Scheint ja 'ne spannende Folge zu sein ...

Grinsend antworte ich: Ja, ist nicht schlecht. Langweilt deine Lektüre dich schon?

Vincent reagiert, indem er mir ein Foto schickt. Er hat einen Satz eingekreist. Ich zoome ran und entziffere: „Ihre Brüste lächelten ihn an."

😂😂😂

Nenn mich fantasielos – auch wenn nichts, was du je über mich behaupten könntest, weiter von der Wahrheit entfernt wäre als das –, aber ich hab echt Schwierigkeiten, mir das vorzustellen.

Und du sagst, deine Mutter hat dir das Buch geschenkt, ja?

Ich weiß, dass du das provozieren willst, aber ich mache mir jetzt garantiert keine Gedanken darüber, ob die Brüste meiner Mutter lächeln können 🖕 Was passiert denn bei dir gerade?

Tyrion Lannister ist Tyrion Lannister.

Ich schicke ihm ein Foto, auf dem meine ausgestreckten, nackten Beine vom Licht des Laptop-Displays vorteilhaft in Szene gesetzt werden und lasse es unkommentiert.

Die Banane ist subtil, aber wirkungsvoll.

Verwirrt betrachte ich das Foto erneut und muss lachen. Tatsächlich sieht man darauf die Banane, die ich mir aus der Küche geholt und noch nicht gegessen habe.

„Subtil, aber wirkungsvoll."

Ich bezeichne mich selbst auch gern als modernen Poeten.

Nichts als die Wahrheit.

Diesmal antwortet er nicht direkt, er schreibt, aber dann erhalte ich nur ein weiteres Foto. Vincent sitzt aufrecht auf seinem Bett, soweit ich das erkennen kann, denn er hat nur seinen Oberkörper abgelichtet, auf den das Licht von der linken Seite aus fällt, wo also die Leselampe stehen muss. Ich ertappe mich dabei, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Es ist nicht viel zu sehen, das Bild offenbart kaum etwas, aber gerade in diesem Halbdunkel liegt die Magie. Er gefällt mir ein beachtliches Stück zu gut, auch äußerlich. Meine Finger geben die Nachricht ins Textfeld ein und versenden sie, ohne dass mein Verstand ihnen das Okay dafür gegeben hätte.

Der Abend war schön

Ganz deiner Meinung ❤️ Ich freu mich sehr auf morgen :)

Ich mich auch :)

Gute Nacht, Charlotte, schlaf gut ☺️

Du auch :*

Ohne lange zu fackeln, schäle ich die Banane und während ich meinen letzten Mitternachtssnack verputze, lasse ich unser Date Revue passieren. Dieser Mann lässt mich mein Misstrauen oft genug vergessen. Trotz der Geschichte mit Gio kann ich mich bei Vincent fallenlassen. Egal, wie oft meine Ratio mir reinreden möchte, und mich daran erinnert, dass ich ihn kaum kenne – Immer wieder passiert es mir, ich werfe jede Zurückhaltung über Bord.

Marlene würde mich nicht mit Vincent verkuppeln wollen, wenn er Dreck am Stecken hätte, da bin ich mir sicher, aber ich habe jetzt schon mehrfach erlebt, dass sie total recht hat. Er hat es wirklich faustdick hinter den Ohren. Seine Entscheidung, den Kuss hinauszuzögern kann ich noch nicht richtig einordnen. Aber er hat mich immerhin direkt danach um ein zweites Date gebeten. Desinteresse ist nicht der Grund für seine Vorsicht.

Die Bananenschale lege ich vorübergehend auf meinem Nachttisch ab. Ich ziehe die oberste Schublade auf und hole meinen wertvollsten Besitz hervor: Ein Medaillon, das aus Silber und mit einer blühenden Rose verziert ist. Ich lasse den winzigen Verschluss aufschnappen und blicke auf das Miniatur-Portrait meines Bruders.

„Was sagst du, Just?", frage ich. „Vincent war doch nett, oder nicht? Netter als Gio auf jeden Fall." Ich schnappe mir meine Decke und wickle mich darin ein. Dann bette ich den Kopf auf mein Kissen und presse das Medaillon auf mein Herz, spiele mit der Kette, lasse das kalte Metall durch meine Finger gleiten. „Gott, was hab ich mir nur bei diesem Typen gedacht?", murmle ich. „Ich frage mich, warum ich das so lange mitgemacht habe, Just. Vielleicht habe ich die latente Bedrohung, die von ihm ausging, ja doch gespürt, und meiner Angst nachgegeben." Ich seufze. „Hach, Justus. Es passiert nur Scheiße, wenn man sich seinen Ängsten hingibt. Ich wünschte, ich wäre mutiger." Behutsam führe ich den Fotoausschnitt an meine Lippen und küsse das Medaillon. „Ich hab dich lieb, Bruderherz."

Ruhe breitet sich in mir aus, vom Herzen bis in meine Finger- und Zehenspitzen. Ich lächle, lasse mich von dem friedvollen Gefühl durchströmen und lege die Kette zurück an ihren angestammten Platz. Zähneputzen ist angesagt und dann sollte ich wohl endlich schlafen gehen. Es steht eine Menge Arbeit in der Redaktion an, und die muss ich ausnahmsweise so erledigen, damit ich pünktlich Feierabend machen kann. Schließlich habe ich ein Date.

So genialWo Geschichten leben. Entdecke jetzt