1 - Vermisstenmeldung: "Haben Sie dieses Privatleben gesehen?"

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Angestrengt kneife ich die Augen zusammen. Die Schriftgröße ist so klein, das kann doch kein Mensch lesen. Anfrage für ein Interview. Nee, also ganz ehrlich, wer uns solche Anfragen schickt, die man nur mit 'ner Lupe entziffern kann, der kriegt ganz bestimmt kein Interview.

„Vincent –"
„Boah nö, Digga. Hau mal ab", unterbreche ich Dag, der sich mit seiner Gitarre an mich herangeschlichen hat und mir aus nächster Nähe ins Ohr singt.
„Du bist so unentspannt, Vincent", fährt er säuselnd fort. „Was ist nur los mit dir?"
„Du Spast", beleidige ich ihn politisch inkorrekt, greife nach meinen Kopfhörern und setze sie demonstrativ auf.
„Ich glaube, du wurdest lange nicht mehr flachgelegt und willst nicht mit mir darüber reden, weil du denkst, ich würde dich dafür auslachen", geht Dag mir weiter singend auf die Nerven.
„Was sagst du? Ich kann dich nicht hören!", täusche ich akustische Verständnisschwierigkeiten vor. Aber Dag weiß sehr gut, wie Noise Cancelling funktioniert, und dass es weder den Klang seiner Gitarre noch den seiner Stimme vollständig kompensiert, zumal ich über den Computer gerade keine Musik laufen lasse.

„Aber, Vincent", senkt er die Stimme um eine ganze Oktave. „Ich würde dich doch niemals auslachen, das weißt du doch. Es ist völlig okay, in deinem Alter noch Jungfrau zu sein."
„Du bist 'n Wichser, leg jetzt die Scheiß-Gitarre weg", fordere ich ihn ernst auf. Dag wechselt bloß die Akkorde, die er spielt und ich erkenne Junge von den Ärzten.
„Vincent, warum bist du nur so ernst?", singt er mehr in Farins Stimmlage als in seiner eigenen und darum ein bisschen schief.
„Hör jetzt auf", rufe ich lachend und trete nach ihm. Dag weicht mir hüpfend aus. Die Gitarre gibt einen gequälten Laut von sich, als er mit den Fingern von den Saiten abrutscht. Er lacht ebenfalls und zieht sich dann den zweiten Stuhl heran, den ich meist in die Ecke schiebe, wenn ich allein am Mischpult sitze.

„Was'n los mit dir, Dicka?", fragt er mich. Mein bester Freund mustert mich schief aus seinen blauen Augen. Dieser Blick ist mir nur allzu vertraut. Spätestens nachdem er mir diese Frage gestellt hat, hilft mir keine noch so plausible Ausrede mehr. Dag kennt mich leider viel zu gut dafür.
„Nichts, ich –", beginne ich, breche aber ab. Dag zieht schon die Augenbrauen hoch. Nichts. Das kann ich meinen Eltern erzählen, aber ihm doch nicht. Ich seufze. „Ich hab einfach kein Privatleben. Gestern saß ich auf der Couch und hab mich durch den Guide für das Aufnahmeprogramm geblättert, das wir seit zehn Jahren benutzen, als würde ich da noch irgendwas Sinnvolles lernen, was ich nicht schon weiß."
„Wow", schmunzelt Dag und ein Anflug von Spott liegt darin, aber es ist erträglich. Er nimmt mich trotzdem für voll. „Traurige, traurige Existenz." Ich fahre mir durch die Haare und drehe mich auf meinem Bürostuhl.
„Ich muss mal wieder mehr unter Leute kommen. Gestern als ich schlafen gegangen bin, hab ich mich so einsam gefühlt, wie seit 'ner Ewigkeit nicht mehr", vertraue ich mich ihm an und Dag nickt verständnisvoll.
„Klingt echt, als müssten wir mal feiern gehen oder sowas, damit du auf andere Gedanken kommst", bestätigt er.

Als mein Handy klingelt, schließe ich erschöpft die Augen. Ich will nicht rangehen, aber Samra wollte sich heute melden und den Aufnahmetermin für nächste Woche mit mir abklären. Wenn ich ihn abwimmle, verzögert sich das nur, und ich habe eh kaum Slots frei zurzeit. Das Klingeln verstummt plötzlich.
„Hi, Kopplin bei Stein." Abrupt fahre ich zu Dag herum.
„Bist du irre?", zische ich. „Gib mir mein Telefon."
„Entspann dich, Whynee", lacht Dag. „Es ist nur Marlene." Zum Beweis stellt er den Anruf auf laut. Unsere gemeinsame Freundin fordert ihn auf: „Mach doch Lautsprecher an." Erleichtert atme ich auf.
„Hab ich schon." Dag beobachtet grinsend, wie die Anspannung aus meinem Körper weicht.

„Hey Lenny", begrüße ich die Frau am anderen Ende der Leitung.
„Na, Vince, wie geht's?"
„Mies", antworte ich wahrheitsgetreu. „Aber besser, seit du angerufen hast", füge ich noch hinzu, was ja auch der Wahrheit entspricht.
„Aw, süß von dir", quietscht sie. „Und jetzt zur Sache – Du weißt ja, dass ich dich nie grundlos anrufen würde, nur um mich nach deinem Befinden zu erkundigen."
„Ich hätte eh keine Zeit für solche Gespräche mit dir", verteidige ich mich knatschig. Marlene lacht.
„Meine zwei Lieblings-SDP-Jungs, was haltet ihr davon, wenn ich nächste Woche vorbeikomme und wir Berlin unsicher machen? Meine Weiterbildung wurde mir gestrichen, jetzt kriege ich wohl spontan Urlaub." Dag zieht die Stirn kraus.
„Du hast nächste Woche Geburtstag."
„Blitzmerker", spottet sie liebevoll. „Ich brauche eine Auszeit, Olli sagt das auch, und ich plane ohnehin eine Freundin in der Mudda-Stadt zu besuchen. Da könnte ich auch euch beiden noch die Ehre erweisen, falls ihr nicht zu beschäftigt seid."

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