Protokoll: Galloneya IV; part 37

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Datenübertragung: Kaya Cuano (POV)

Der Chauffeur machte einen Zwischenhalt im neunundneunzigsten Distrikt. Nervös sprang ich aus der schwarz lackierten Limousine mit den schalldichten Innenwänden und marschierte ins Hochhaus. Im achten Stock wartete ich vor dem Fahrstuhl, lehnte mich an die Wand und ignorierte das Schild, das mir verbot, im Gebäude zu rauchen.

Sandrilla hatte mir seit Beginn des Auftrags keinen neuen Stoff gegeben. Das war eine komplette Nacht her. Seitdem schleppte ich den abgetrennten Kopf mit mir herum, außerdem war ich so nüchtern wie schon ewig nicht mehr. Krämpfe, Schweißausbrüche und Knochenstarrheit flehten mich an, meinen Körper mit Skydive zu versorgen. Mir ging's scheiße und mir war total übel. Ich konnte klar denken und gleichzeitig überhaupt nicht. Wie sollte man das erklären? Nun, ich war mehr ich selbst ... und litt an dem stundenlangen Entzug. Meine Gedanken zirkulierten um ein paar Gramm, einen Tropfen, irgendwas von dem blauen Gift. Ich wollte es. Ich brauchte es. Ich konnte nicht ohne es leben.

Fuck, wo blieb er?

Er, Arthur Icon, der große Bruder der Zwillinge und des Präsidenten ältester und einziger Sohn. Ich sollte ihn von der Selbsthilfegruppe abholen, ich, kein anderer, das hatte er sich so gewünscht. Keine Ahnung, wieso er mich mochte. Vielleicht, weil ich als Einzige nett zu ihm war. Arthur war ein hochfunktionaler Asperger-Autist, ein Makel in der Geschichte der Icons. Er war seltsam, sah einem nie in die Augen, selbst vor seinen eigenen Schwestern war es ihm unangenehm, er sprach entweder zu leise oder zu viel, er zuckte beim Reden und hatte einen merkwürdigen Gang, seine Haltung war oft krumm. In der Öffentlichkeit präsentierten sie ihn deswegen nie. Irgendwie tat er mir leid ... im Grunde war er ganz nett. Ihm fehlte diese bösartige Natur, die seine Familienmitglieder vereinte. War er deshalb der Außenseiter?

Ich dachte kurz darüber nach, um mich von meinem Verlangen abzulenken: die Rollenverteilung unter den Icons. Kendal war der Liebling ihres Vaters. Sie bekam alles, wenn sie nur fragte und lieb mit den Wimpern klimperte. Sandrilla selbst hatte ich einmal jammern hören, für wie ungerecht sie das befand, nun, denn sie war das Leistungskind. Sie tat viel, erarbeitete sich jeden Erfolg persönlich, war eine Perfektionistin im Herzen und den Druck gewöhnt. Scheinbar ging der Präsident etwas strenger mit ihr um, auch wenn ich das nicht verstand. Sollte es nicht andersherum sein? Dass sie glänzen sollte, während ihre Schwester den Staub fing? Und dann war da Arthur, das schwarze Schaf. Er wurde verhätschelt und nicht ernst genommen, jede Bürde nahm man ihm ab, er wurde bedient und ständig betreut, seine Anwesenheit reizte die Schwestern, da er anders war. Keiner aus seiner Familie wollte Zeit mit ihm verbringen. Ich tat's manchmal. Schach mit ihm war zur Abwechslung herausfordernd.

Eine Erinnerung, wie Sandrilla sich mal über ihn mit einem vertrauten Geschäftspartner ausgelassen hatte, erschütterte mich heute noch bis ins Knochenmark. »Per Gesetz müsste Arthur als männlicher Erbe nach Vaters Tod das Familienvermögen und seine Position beim Firmenvorstand gewinnen, und auch nur er wäre somit imstande, für die Präsidentschaft zu kandidieren«, hatte sie gesagt, »aber das wird nicht geschehen. Ich erkläre dir, was stattdessen passieren wird. Irgendwann – in wenigen Jahren, wer weiß?, – wird Arthur sich eine Reise ins Ausland buchen, um sich einen Urlaub zu gönnen. Dort wird er jedoch nie ankommen. Er wird sich in eine Besenkammer verlaufen, wo er sich selber versehentlich einschließt und lange verhungert sein wird, bis man nach ihm suchen lässt. Er wird tot vorgefunden. Mein armer Bruder, niemand hat nach ihm gesehen, sich vergewissert, dass es ihm dort, wo er ist, gut geht. Seine Leiche wird bereits faulen, sodass man ihm der Menge nicht mehr vorzeigen kann. Wissen, dass es ihn gegeben hat, wird ein Großteil Galloneyas gar nicht. Schade. Ich werde bei seiner Bestattung viele Tränen weinen und unsere schönen Erlebnisse aus der Kindheit mit der Presse teilen. Man wird mich als die mitfühlende Schwester eines Behinderten erleben. Man wird mich dafür lieben. Und man wird mich deshalb wählen.«

A Baptism of Fire - Hawk's Eyes SerieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt