Protokoll: Kaya; part 1

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Obwohl heute mein erster Schultag war, war ich kein Stück nervös.

Ich war bestens vorbereitet, hatte über die Sommerferien gelernt, die Stundenpläne studiert, mir das Schulhaus angesehen und mir an der Tankstelle zwei Schachteln Zigaretten und einen heißen Kaffee besorgt. Er war schwarz und mit eineinhalb Löffel Zucker vermengt. Da ich nicht gern frühstückte und lieber spontan als zu geregelten Zeiten aß, kam mir die Energie gerade recht.

Ich trank einen Schluck und stellte mit Grauen fest, dass es regnete. Harte Tropfen trommelten in Strömen gegen das Fenster und rannen kunstvoll herab, zerschnitten das Glas, wurden filigraner. Fasziniert beobachtete ich die Bahnen und ignorierte, dass sie mich vor der Schule nässen würden. Manchmal konnte mich etwas völlig Natürliches packen, meine Fantasie anregen, den Geist fördern. In meinem Gehirn ratterte es und ich versuchte, die Linien zu deuten. Man könnte es zeichnen. Jeder würde nur den Regen sehen, doch ich ... ich erkannte eine Einheit, ein Gebilde. War das verrückt? Wen schert's. Ich sollte mich auf den Weg vor mir konzentrieren und nicht auf unbedeutende Details.

Grinsend über meine eigene Selbstkritik nippte ich am Pappbecher meines Kaffees und überprüfte die Schulunterlagen auf meinem Schoß. Meine Ordner und Hefte waren vollständig, jedoch leer. Kein Wunder. Die erste Stunde hatte noch gar nicht begonnen. Ich war viel zu vorausschauend.

Im Bus müffelte es nach Schweiß und Mädchen, die sich viel zu sehr parfümiert hatten: eine widerlich paradoxe Kombination. Ich rümpfte die Nase und sah mich um. Keinen hier kannte ich, war ich doch neu.

Ich zählte gerade mal achtzehn Jahre und hatte das Waisenhaus verlassen, um mein Stipendium an der Francis University anzunehmen. Es war eine private Einrichtung und für gewöhnliche Leute kaum zu bezahlen. Wie gut, dass ich zu klug war, um gewöhnlich zu sein. Der Staat hatte meine Leistungen anerkannt und mich reichlich belohnt – hiermit. Mit einem Ort, an dem ich lernen und beruflich was erreichen konnte. Zu träumen wagte ich nicht. Ich tat etwas für meine Zukunft, für meine Eltern, für mich selbst. Und das war immer besser als dazusitzen und nichts zu machen.

So war ich nicht. Ich handelte und ich lebte.

Als der Bus hielt, wartete ich das Gedränge ab, bis ich mich erhob und mir an der Haltestelle wünschte, ich hätte einen Regenschirm mitgenommen. Die Schüler vor mir huschten über den Campus, die Jacken über ihre Köpfe gezogen, kreischend und lachend. Wie konnte man bei diesem Wetter lachen? Oder gut drauf sein. Ich glaubte, das war ich nie.

Francis war eine an sich kleine Stadt hoch im Norden, die jedoch in den Broschüren groß dargestellt wurde. Das lag vor allem an ihrer berühmten Universität. Ich kam aus der Stadt und wusste, was wirklich groß war. Hier war die Luft reiner, die Temperatur kälter und das Land schneebedeckt, das Panorama bergig, karg, natürlich. Wo ich geboren wurde – und wie es in den meisten Fällen auch überall aussah – war jedes Gebäude mit der Industrie verwachsen. Die Himmel waren dunkel von Abgasen und Rauch, die Straßen so finster, dass man sie gar tags beleuchten musste und der Verkehr lärmte. Es stank, es war schmutzig und wer keinen Anzug trug, war so arm, dass er unter keinem Dach lebte oder befand sich an der finanziellen Grenze. Oh nein, so würde ich nicht enden. Ich würde meinen Eltern gerecht und in FIRMA hoch aufsteigen.

Ich zog meinen marineblauen Rucksack straff, bis er mir fast in die Haut schnitt und setzte mich in Bewegung. Mein dunkles, honigblondes Haar war inzwischen triefnass. Während ich ging, band ich es zu einem Zopf zusammen und hielt mich gebückt, um vielleicht nicht komplett durchweicht zu werden. In der Eile stieß ich mich an der Brüstung eines riesigen, runden Brunnens und betrachtete mich flüchtig selbst im Spiegelbild. Meine Wimperntusche war verlaufen. Mein Gesicht glich einem mürrischen Panda mit ruhigen schwarzen Augen, die von Schläfrigkeit sprachen. Na toll. Alle würden denken, ich hätte einen traurigen Clown gefrühstückt.

A Baptism of Fire - Hawk's Eyes SerieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt