Prolog : Wolken am Horizont

185 29 46
                                    

"Mein lieber zukünftiger Ehemann,

Lieber Unbekannter,

Weißt Du, dass der Himmel heute wunderschön blau leuchtet? Es ist sinnlos dies zu erwähnen, ich weiß, aber ich mochte den Himmel schon immer.

Himmel, Sky. Elisabeth Cassandra Sky, mein vollständiger Name. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie Du mich später nennen wirst. Ich weiß schließlich noch nicht einmal, wie ich mich nennen werde, wenn dieser Zug hält und ich aussteige. 

Da ich schon hunderte Male darüber nachdenken musste, was ich hier schreibe, aber zu keinem endgültigen Schluss kam, schreibe ich einfach los. Es wird sowieso die längste Zugfahrt meines Lebens, nicht, weil ich das Land verlasse, nein, ich verlasse mein altes Leben, welches zwar dem perfekten Himmel glich, aber dennoch der Hölle gleichkam, falls Du dies verstehst. Ich schreibe Dir hier, in der vermutlich sinnlosen Hoffnung, Dir  in meinem neuen Leben zu begegnen.

Wie geht es Dir? Mir geht es gut, wie immer. Ich hoffe sehr, Dir auch.

Der Himmel leuchtet heute wirklich so schön wie nie, vielleicht ein Zeichen, dass alles gut werden wird in Rose Village. Rose Village, eine kleine Stadt in Minnesota, welche kaum jemand kennt. Die Stadt der Rosen, meine Lieblingsblumen, ich vermute, es wird viele in der Stadt mit derselben Vorliebe für Rosen geben. 

Wie wird es dort wohl sein? Wird dort der Himmel nicht so verdreckt von Fabriken sein wie in New York? Ich hoffe es sehr, denn diese unschönen Rußwolken waren kaum mehr zu ertragen. 

Irgendwie macht mich das Rattern der Räder schläfrig, während ich abwechselnd den Himmel und mein Blatt betrachte. Die Zeilen, welche ich mit Worten fülle, während die Wolken am Himmel immer weiter ziehen. Kannst Du es glauben, dass den Himmel hier weniger Wolken bedecken als Worte mein Blatt? Ich persönlich würde es nie glauben, in New York waren es immer mehr Wolken am Himmel als Worte auf dem Blatt, selbst wenn ich einen Roman auf ein Blatt gepresst hätte. 

Ob wohl Deine Augen dieselbe Farbe haben werden, wie dieser wundervolle Himmel über mir? Ich weiß es nicht, im Grunde ist es mir egal, solange Du nicht so oberflächlich bist, wie alle anderen Menschen, welche ich bisher kennenlernte, welche jedoch immer vorspielten, mehr zu sein. 

Weißt Du eigentlich, dass man das Leben eines Menschen an seinen Gedanken über den Himmel beurteilen kann? Ich habe es schon vor langem gelernt, auch wenn manch etwas, was ich erkannte, nicht dem entsprach, was ich sehen wollte. Es gibt Menschen, welche den blauen, wolkenlosen Himmel lieben. Solche Menschen lieben das Leben, die Freude daran, doch ebenso gut verdrängen sie alle Probleme, bis sie vor dem nichts stehen. Man kann mit ihnen lachen, Scherzen, doch am Abgrund steht man später alleine, das kann ich nur allzu gut beurteilen. 

Dann gibt es wiederum Menschen, welche nur Wolken sehen, den Regen deuten, welche meinen, dass ein Sturm irgendetwas zerstören würde. Aus Erfahrung weiß ich, dass diese Menschen immer wieder Unheil heraufbeschwören, indem sie einfach darauf hoffen und alles Gute als schlechte Vorahnung erkennen. 

Wo ich herkomme, gibt es meist nur diese beiden Arten. Entweder strahlt die Sonne oder der Tod wartet, etwas anderes gibt es kaum. Ich hoffe sehr, dass Du weder zu den einen, noch zu den anderen gehörst. 

Meine Gedanken konnte bisher noch niemand verstehen, weil ich mir noch nie die Mühe machte, sie ausführlich zu erklären. Vermutlich wird es auch niemals jemanden geben, welcher mich versteht, dazu bin ich aber auch zu seltsam. Aber mit etwas Glück wird sich das in Rose Village noch ändern. Mit etwas Glück und sehr viel Hoffnung. 

Ich denke, dass egal, ob der Himmel nun wolkenlos ist oder nicht, er immer etwas Schönes ist. Denn auch das Leben hat seine guten und schlechten Seiten, nicht immer scheint die Sonne, doch wenn es nur ewig regnen würde, würde die Welt untergehen. Denn allein die endlosen Weiten des Himmels lassen  einem die Hoffnung, dass irgendwann alles seinen Platz finden wird. 

Kein Mensch würde ewigen Sonnenschein oder ewigen Regen ertragen, wieso wünschen sie es sich dann? Ein Wunsch sollte realistisch bleiben, mit allen Schatten, sowie Sonnenseiten, deshalb wünsche ich mit nur, dass ich dich hier finden werde, und dass es anders als in New York wird. 

Anders, jawohl, genau das meine ich, denn perfekt wird es niemals sein, was ich mir aber auch niemals gewünscht hätte. Der Umzug in diese Kleinstadt am Rande der Welt soll bloß ein Neuanfang werden, hoffentlich für immer. 

Ein Neuanfang in der Stadt der Rosen, für viele ein Traum, für mich hoffentlich einer, welcher wahr werden wird. Möglichkeiten so weit wie der grenzenlose Himmel, welcher vor mir liegt, Erwartungen leider fast ebenso weiträumig. 

Immer wieder schweift mein Blick zum wolkenlosen Himmel ab, zu der Welt, welche sich in Kürze offenbaren wird, ich glaube schon, die ersten Häuser am Stadtrand zu erkennen. Braune Hütten zwischen den gelben Feldern, welche bald gepflügt werden. Pferde vor dem Pflug, grasende Kühe. Vielleicht ein Anblick, welchen man als Kleinstadtbewohner gewöhnt ist, wenn die Stadt schon einem großen Dorf gleichkommt, aber bisher sah ich diese Bilder nur von Büchern und aus der Zeitung. 

Sobald man New York verlässt, kommt es einem vor, als würde man eine neue Welt betreten. Für mich ist diese neue Welt Rose Village. Eine Welt, voller Rosen und Sonnenstrahlen, mit einem leuchtenden Himmel. 

Wie werden die Menschen wohl sein? Ich weiß es nicht. Ich denke, ich richte mich einfach nach der ersten Person, welche mit mir redet, egal ob sie nun sympathisch ist oder nicht. Manchmal hat man einfach keine Wahl. 

Wer wird wohl die erste Person sein, welche ich treffe? Vielleicht einer der Bauern auf dem Weg, schließlich werden sehr viele zu dieser Zeit auf dem Heimweg sein müssen. Ob ich Dich wohl als erstes kennenlerne? Wenn, dann wäre es ein Wunder, denn bisher habe ich dich noch nie gefunden, selbst wenn ich suchte. 

Langsam setzen die quietschenden Bremsen ein, wir stehen kurz vor dem Bahnhof. Statt tausenden an Menschen, wie auf der Reise hierhin, stehen dort nur wenige, die meisten ohne Gepäck, vermutlich, um jemanden abzuholen. 

So groß ist diese Stadt wohl doch nicht,  aber ich hoffe es gibt auch Kutschen hier, immerhin ist der Bahnhof fünf Meilen vom Zentrum von Rose Village entfernt und ich beabsichtige nicht zu laufen. 

Aufgeregte Menschenmassen strömen an meinem Abteil vorüber, ich beobachte sie, denn vielleicht könnte von ihnen aus Rose Village sein oder sogar Du. Aber keiner von ihnen könnte Du sein, den an keinen von ihnen kann ich mich nach einer Sekunde auch nur erinnern. 

Ein letztes Mal betrachte ich von diesem Zug aus den Himmel, denn ich hoffe, ich muss nie wieder an diesen Bahnhof zurückkehren. Eine Wolken in Form einer Rose bahnte sich ihren Weg zum Zug, doch nie würde sie ihn erreichen. Wie das Gute im Leben einen nie erreicht. 

Der Zug hält, ich muss aussteigen. 

Für immer und ewig 

Deine 

Elisabeth" 

Elisabeth faltete ihren Brief zusammen und legte ihn in ihren Koffer, kurz bevor sie sich durch die Menschenmassen drängte, um rechtzeitig aus dem Zug zu gelangen.  

Als sie ausstieg lächelte sie, die kleine Rosenwolke war schon weit in eine andere Richtung verschwunden und veränderte sich in eine Feder. Eine Feder, wie die, mit der sie ihre Briefe vervollständigte, welche Elisabeth noch schreiben würde. 

Sie wandte ihren Kopf vom Himmel ab und stapfte über den Bahnstieg, hinaus nach Rose Village, auf dem Weg Nachhause. 

Rose Village. Ein Ort, welcher Elisabeths Leben vollkommen veränderte. Elf Buchstaben, welche eine ganze Geschichte bedeuten. Zwei Worte, nach welchen nichts mehr sein würde wie zuvor. 

Denn manchmal bedeuten tausend Worte nichts, und nur wenige Worte alles---



Rose Village-der Duft von RosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt