sechsunddreißigstes Kapitel: Freund und Feind

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"Mein lieber zukünftiger Ehemann, 

Lieber Unbekannter, 

ich hasse James! Ich hasse ihn über alles! Wie kann er nur so gemein sein! Doch eigentlich - ich weiß nicht weshalb, aber ich kann ihn nie vollkommen hassen. Er ist ein wunderbarer Mensch und doch der schlimmste dieses Universums. 

Aus der Sicht einer Geschäftsfrau würde ich den gestrigen Tag als den besten des Jahres bezeichnen - doch aus jeder anderen Sicht als reinste Katastrophe. Lucy kann ich damit gerade nicht auf die Nerven gehen, sie zählt schon seit gestern nach unsere Einnahmen. Offenbar haben wir knapp vierhundert Dollar verdient, was sie schlichtweg erfreut. 

Ich hingegen sitze in der Ecke meines Hauses und weine. Wie ich es schon gewohnt bin. Wieso benimmt sich James so seltsam? Wieso macht es mich nicht so traurig, dass die Leute so schlecht von mir denken? In New York war es vollkommen anders. Ich wusste, was alle dachten und ich kümmerte mich nicht darum. Doch Rose Village war anders. Ich weiß auch nicht, was genau diesen Ort zu etwas machte, das mir mehr bedeutete als meine Heimat. 

Nur James hatte mal wieder das Talent, alles zunichte zu machen. 

"Cassie! Cassie, Du kannst Dich nicht ewig hinter der Theke verstecken!", schimpfte er gestern Abend, als er mich endlich gefunden hatte. Er klang wirklich wütend und ich bemerkte, wie auch Miss Foster hinter ihm ankam. 

"Behalte Deine Würde, James. Ich hab mich nicht versteckt, ich war damit beschäftigt, die Druckerpresse zu betätigen, die, wie du weißt, hinter der Theke steht", antwortete ich in einem ruhigen Tonfall. Noch versuchte ich, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Immerhin wollte ich nur die junge Foster und James auseinanderbringen. 

"Was hast du dir nur dabei gedacht? Dass du die Fosters in deiner Zeitung als Ganoven darstellst, das ist nichts Neues. Doch innerhalb der Familie, die dich schon als Mitglied akzeptiert hat, einfach jemanden als neueste Schlagzeile nutzen, das ist nur eines - hinterhältig. Du bist ein Niemand, wenn du so handelst. Ein niemand und keinen Penny wert", meckerte er völlig außer sich. 

"Lucy billigt meine Handlung", entgegnete ich trocken, Es war nicht so, dass mir die Worte nichts bedeuteten, doch ich wollte nicht schon wieder weinen. Sie zerbrachen mich innerlich, doch ich musste einfach die stolze Lady sein, auf die Mutter und Lucy so stolz waren und sind. Nicht ein einfacher Mensch, eine Lady Sky. Doch er konnte es nicht verstehen. 

"Du bist unmöglich. Du bist ein Niemand", rief er mir schon halb im Gehen hinterher. Alles in allem war unser Gespräch kurz, doch bedeutend. Hatte er recht? War ich niemand? Und wenn nicht, wer war ich dann? Niemand. Er hatte einfach recht gehabt. 

Schließlich trat Miss Foster nach vorne, doch beachtete ich sie kaum. Mir war langsam egal, was sie von mir dachte. Mir war egal, was die gesamte Welt dachte. Recht machen konnte ich es sowieso niemandem. Und Miss Foster war die letzte Person der Welt, für dessen Meinung ich mich interessierte. 

Schweigend stand sie da. Keine Beleidigung, keine Beschimpfung. Nicht einmal eine Regung. Und in ihrem Gesicht - es war eine Mischung aus purem Hass und Mitleid? Wieso benahm sie sich nur so seltsam? 

"Und? Was wollen Sie sagen? Dass ich eine Idiotin bin? Ein Niemand? Es nicht verdiene zu leben? Na los, sagen Sie es ruhig! Es zählt sowieso nichts mehr! Nichts! Schimpfen Sie ruhig! Sagen ruhig allen, dass ich die schlimmste Person dieses Dorfes bin! Nehmen Sie doch ein Messer und stechen Sie zu, dann sind Sie mich los!" 

All die Wut, die ich bei James noch unter Kontrolle hatte, kam aus mir heraus. Meinetwegen konnte Rose Village noch in Jahren über den heutigen Tag lachen. Es bedeutete mir nichts. Ich hatte mich in meinen Fehlern verfangen und nun gab es kein Zurück mehr. Ich hatte meinen besten und vermutlich einzigen echten Freund verloren und einen Feind gewonnen, dem ich niemand entgehen konnte. Nein, ich hatte zwei Feinde gewonnen. Ihn und mich, die beide meine Taten bis auf Tiefste verabscheuten. 

Miss Foster war irgendwann ohne ein Wort gegangen. Mein Feind in dieser Stadt konnte mich besser verstehen als mein bester Freund. Und ich selbst hatte das gelernt, wovor mich Mutter immer gewarnt hatte - ich hatte mich selbst als Feind gewonnen. 

Wieso? Wieso nur das alles? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr. 

In Liebe 

Deine 

Elisabeth" 

Ohne dass sie das Blatt auch nur festhalten konnte, fiel der Brief zu Boden. Nur der Füller steckte noch zwischen ihren ermüdeten Finger, während er blaue Spuren auf ihren Händen hinterließ, die für das Wort "Feind" ergaben. Doch die Spur in ihrem Herzen, die sich seit dem Einzug in Rose Village gebildet hatte, war bedeutungsvoller. Diese Linie quer durch ihr Herz schnitt dieses in zwei Hälften und ließ beide Seiten einander hassen. Und nur wahre Liebe konnte diesen Riss wieder heilen, der schon unaufhaltbar schien. 

Manchmal ist man selbst der feind, den man am meisten fürchtet--- 

Rose Village-der Duft von RosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt