fünfundvierzigster Brief: Leben und Tod

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"Mein lieber zukünftiger Ehemann, 

Lieber Unbekannter, 

was habe ich nur getan? Wieso nur? Wenn das an die Öffentlichkeit gelingt, bin ich erledigt. 

Alles wirkt so irreal ... Wie konnte es überhaupt so kommen? Wie wahrscheinlich ist so etwas schon? Ich, beide Male dort, wo so etwas geschieht. Dann er, dieses abscheuliche Monster ... Verdammt noch mal, das soll endlich aufhören! 

Ich kann nicht mehr! Immer alles vor meinen Augen! Ich hasse ihn! Ich hasse diese verfluchte Welt! Ich halte das alles nicht mehr aus! Ich mache auch nichts richtig! 

Es war die falsche Entscheidung und ich weiß es. Mutter wäre wirklich wütend auf mich. Lucy wird es mir nie verzeihen, sobald sie es herausfindet. Ich bin ruiniert. Am Boden zerstört. Am Ende. Wieso habe ich das nur getan? Wieso nur heute? Wieso nur ich? 

Alles wirkt immer noch wie ein schlechter Albtraum. Wiehern, Hufe schlagen nieder. Jemand fällt und Boden. Schreie. Endlose Schreie. Peitschenhiebe. Krachen. Wieder schlagen Hufe nieder. Das Schreien hört nicht auf. Ich will das es aufhört! Es darf nicht wahr sein! Es muss einfach ein Traum sein! Ein ohrenbetäubendes Krachen und die Schreie verstummen. Pferde wiehern auf und Hufe klappern immer schneller über den Weg. Kutschenräder rattern. Ich renne. Sekunden erscheinen wie Jahre. Das darf einfach nicht wahr sein! Die Tür knallt auf. Rädern rattern davon. Er wirft einen Blick zurück. Er, der Mann, der meine Schwester getötet hatte. Schon wieder. 

Wieso nur? Ich verstehe das nicht! Erst sehe ich ihn jahrelang nicht und nun taucht er wieder auf. Jedes mal, wenn ich in sein Gesicht blicke, sehe ich Eleonore, die nun nie wieder zu mir zurückkehren wird. Ich hasse ihn! Ich hasse diese ganze verdammte Welt! 

Ich hätte nicht so handeln dürfen. Lucy wird mich dafür hassen. Doch ich ... Ich konnte einfach nicht anders. Dieser eine Moment, fast genau wie vor elf Jahren. Immer wieder. Der Tag scheint einfach von Neuem anzufangen. Doch nichts rechtfertigt mein Handeln. Absolut nichts! 

Theodor ... Dieser dumme, äußerst dumme Junge. Er soll nicht auf der Straße rennen, wenn jemand vorbeifährt, das habe ich ihm doch eingeprägt. Das darf er doch nicht. Jeden Schultag habe ich ihm gesagt, er dürfe nicht vor den Kutschen über die Straße. Und was macht er? Das Gegenteil! Dieser verdammte dumme Junge. 

Er war eigentlich selbst schuld. Ich hätte ihn da liegenlassen sollen. Weggehen, so tun, als hätte ich nichts bemerkt. Anderen sein Schicksal überlassen. Ich hätte weggehen müssen! Niemals hätte ich mich auch nur eine Sekunde um ihn kümmern dürfen. 

Lucy wird so sauer auf mich sein. Sie ist wie Mutter, sie hat mich auch immer für meine Nachgiebigkeit gehasst. "Nur wer seinen Feinden den Tod wünsch, ohne es zu bereuen, beweist wahre Stärke", hat sie immer gesagt. Ich kann das einfach nicht. Mir fehlt der Mut für all das. 

Ich habe ihn zu meinem Verlobten gebracht. Als ob ein Arzt ihm noch helfen könnte, so wie er aussah. Ich habe es dennoch versucht. Sogar Geld habe ich Cavendish dafür gezahlt, dass er seine Pflicht tut. Mister Foster hätte das Geld für eine Behandlung niemals zusammenbekommen. Cavendish hätte niemals ohne Bezahlung für den Jungen gesorgt. Doch Theodor wird sowieso sterben. 

Alles kam, wie es eben kam. Ich weiß nicht wieso und ich kann es nicht gutheißen. Theodor lebt. Noch. Dieser verdammt dumme Junge, ich habe es ihm doch gesagt ... 

Egal. Das Leben geht weiter, bis zum bitteren Ende. Vielleicht erwartet mich das Ende auch bald, wer weiß. 

Deine 

Elisabeth" 

Bis zum bitteren Ende. Lange nicht mehr fühlte sie sich dem Ende so nah. Sie zertrümmerte nichts, sie schrie nicht, sie weinte nicht. Innerlich lag schon alles in Trümmern, doch die Tränen kamen nicht. 

Sie hatte einen Menschen gerettet, auch wenn vielleicht nicht für immer. Was sollte daran falsch sein? Doch sie hatte Angst. Angst davor, was die Leute davon denken könnten. Sie hatte Eleonore nicht mehr retten können, doch dieses Mal konnte sie jemanden retten. Es war nicht zu spät, doch die Hoffnung war schon aus ihrem Herzen verschwunden. Sie konnte ihre eigene Schwester nicht retten, was brachte ihr dann das Leben eines Bauernjungen? Theodor lebte noch, aber eigentlich wollte sie damit ihre Schwester zurückholen, die sie niemals mehr erhalten würde. 

Und wer war der mysteriöse Mann, der immer wieder Unglück über ihr Leben brachte? Es würde noch Jahre dauern, bis sie wusste, wer er war, doch es würde viel erklären. Zu viel. 

Denn manchmal ist die Schuld, die man sich gibt, nicht die Schuld, die man trägt. Schuldig ist nie derjenige, der aus dem Herzen heraus gehandelt hat --- 

Rose Village-der Duft von RosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt