einunddreißigstes Kapitel: Damals

10 6 10
                                    

"Mein lieber zukünftiger Ehemann, 

Lieber Unbekannter, 

Ich weiß nicht, ob ich endliche die Worte finden kann. Zwölf verdammte Jahre liegen zwischen diesen Begegnungen. Zwölf Jahre lang hatte ich ihn nicht wiedergesehen. Und nach diesen zwölf Jahren wünschte ich ihm immer noch den Tod. 

Wieso? Wieso nur das alles? Eleonore hatte noch ihr ganzes Leben vor sich! Eleonore... 

Ohne es mitzubekommen war ich auf den Boden gesunken. Jahrelang hatte ich alles getan, um diesen einen Moment zu verdrängen. "Du sollst das vergessen, Lady Elisabeth Sky. Eine Lady darf nicht nach vergangen Zeiten trauern. Als Lady musst du immer und überall perfekt sein", pflegte Lady Sky zu sagen. Und doch konnte ich nichts vergessen. 

Ich winkte Eleonore zu. Einige Tage lang hatten wir uns jetzt schon nicht gesehen, doch nun war es wieder soweit. Nur noch eine kleine Straße trennte uns voneinander. 

So schnell wie ich in Stöckelschuhen nur konnte, rannte ich auf sie zu. Ich bereute es immer noch, dass ich sie nicht mitnehmen konnte in die perfekte Welt, die mir offenbart wurde. Immerhin lebte sie nicht mehr auf der Straße, also schon ein Fortschritt. 

"Cassie", rief sie herüber. Sie klang überglücklich. 

Ich blieb stehen und wartete, bis sie herüber kam. Nirgendwo war eine Kutsche in Sicht, also auch keine Gefahr. Die Passanten um mich herum drängelten zwar etwas am dank des bauschigen Kleides konnte mich niemand umschubsen. 

Eleonore lief mit großen Schritten auf mich zu, als eine Kutsche mit wahnsinniger Schnelligkeit um die Ecke kam. Die Pferde galoppierten, immer schneller von der Peitsche getrieben, sodass man schon das Weiße in ihren Augen sehen konnte. Nicht einmal auf die Menschen nahm der Verrückte Rücksicht, der quer durch die Nebenstraßen New Yorkes hetzte. 

"Eleonore! Renn", schrie ich voller Kraft. Doch ich traute mich nicht, sie von der Straße zu zerren. Alles schien einfach an mir vorbeizurasen, so als ob ich nicht einmal etwas tun könnte. 

Sie legte an Tempo zu. Doch der Wahnsinnige, der schon einige Leute gestreift hatte, trieb seine Pferde gnadenlos näher. Die für diese Gegend kleine Straße war breit genug um jemandem auszuweichen, doch er tat es nicht. Nicht nur das, er lenkte seine Kutsche gradewegs auf sie zu. 

Plötzlich stolperte Eleonore und fiel zu Boden. Am liebsten hätte ich geschrien, doch ich konnte nicht. Stattdessen hoffte ich vergeblich darauf, dass es bloß ein Traum war. Und doch war dieser Albtraum die Realität. 

Hilflos kauerte sie sich zusammen. Niemand anderes war gerade auf der Straße und er musste sie einfach gesehen haben. Er musste ihr einfach ausweichen! Ich betete dafür, dass er einfach an ihr vorbeifuhr. 

Die Pferde wieherten und ich blickte zwischen meinen Händen, die ich vor das Gesicht geschlagen hatte, durch. Die Pferde bäumten sich auf und wollten nicht weiterlaufen. Und jeder Mensch, der kein Herz aus Stein hätte, wäre an dieser Stelle stehen geblieben. Doch er hieb immer wieder mit der Peitsche auf die Pferde ein, bis die Hufe niederasten und... 

Wieder schlug ich die Hände vor meine Augen. Das konnte alles nicht wahr sein! Ich musste aufwachen! Ich musste! Doch ich konnte nicht, da es kein Traum war. 

Als ich kurz danach mich dazu zwang, die Hände herunter zu nehmen, bemerkte ich, wie viele Menschen schnell davonliefen. Hauptsache man hatte nichts mitbekommen. Hauptsache die Verantwortung lag nicht auf einem selbst. 

Ich lief nach vorne und versuchte, Eleonore von der Straße zu ziehen. Tom, ein Obdachloser, den ich schon seit meiner frühsten Kindheit kannte, kam mir dabei zu Hilfe. Doch es brachte nichts. Sie war einfach tot. Und niemand würde sie mehr zurückbringen können. Eleonore würde niemals zu mir zurückkehren. Niemals... 

Ich brach in Tränen aus und fiel in mich zusammen. Nichts war mehr wichtig. Der Albtraum war zum zweiten Mal Realität geworden. Der Mörder, der mich all die Jahre verfolgt hatte, war wieder da. 

Auf Wiedersehen, 

In Liebe 

Cassie" 

Erinnerungen können mehr schmerzen als so manch realer Moment, doch das Schlimmste an ihnen ist, dass sie nie vergehen--- 

Rose Village-der Duft von RosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt