"Mein lieber zukünftiger Ehemann,
Lieber Unbekannter,
James geht mir so auf die Nerven! Wieso bildet er sich immer ein etwas zu wissen und wieso bekommt er immer alles heraus? Hat er nichts Besseres zu tun, als mich erst anzuschimpfen und dann doch nett zu sein? Ich weiß nicht, wieso ich diese Nervensäge überhaupt ertrage. Vielleicht, weil er mich mit seinen Nichtigkeiten von ernsthaften Problemen ablenkt.
"Cassie! Warte doch, Cassie!", schrie er zur Begrüßung quer über die Straße.
Ich glaube, mittlerweile wundert sich jeder über seinen Spitznamen für mich. Cassie klingt schließlich nicht wirklich vornehm. Aber bei ihm kann man sich eigentlich über nichts wundern, da sein Gehirn seltsamerweise beizeiten auf Erbsengröße zu schrumpfen scheint.
"Was ist geschehen, James, dass du solch einen Aufruhr veranstaltet?", fragte ich und lief trotzig weiter auf mein Haus zu. Hereinlassen würde ich ihn dennoch nicht, stehen hatte er immerhin in der Schule sicherlich genug gelernt.
"Weißt du was, da stirbt ein Junge dir fast vor der Nase weg und du bleibst komplett ruhig. Noch schlimmer, du behauptest, du hättest absolut nichts mitbekommen! Und ich habe gesehen, dass du nachhause gegangen bist, also erzähl mir nicht, du wärst woanders. Ich weiß, dass du etwas mitbekommen hast."
"Du hast wirklich einen hang für reizende Formulierungen. Da stirbt mir jemand fast vor der Nase weg, klingt wirklich vornehm. Außerdem habe ich nichts mitbekommen, ich muss immerhin nicht alle paar Sekunden auf die Geschehnisse vor meinem Fenster Acht geben."
"Wer's glaubt, wird selig. Diesen Stuss kannst du jemand anderem erzählen, aber mit Sicherheit nicht mir. Du hast etwas mitbekommen und ich weiß es. Und weißt du, woher ich es weiß? Weil ich weiß, dass du niemals etwas verpassen würdest, das mit den Fosters zu tun hat! Und weißt du warum? Einzig und allein aus dem Grund, weil du sie gerne ärgerst! Doch was war dieses mal nur los? Du weißt was, habe ich Recht?"
"Du willst etwas wissen? Nun gut, hier eine Information für dich; häufige Wiederholungen lassen dich wie einen Bauerntölpel wirken. Variiere deine Repliken ein wenig und schon werden die mit dir geführten Dialoge lebendiger und nicht so abgedroschen wirken. So oft, wie du manche Worte wiederholst, unterhält sich auf Dauer niemand mit dir. Zudem sind deine Formulierungen eintönig und sinnlos, du solltest mehr darauf achten, wie du redest als was du redest. Wäre das genug an neuerworbenem Wissen?" Ich wollte mich nicht in ein längeres Gespräch mit ihm verwickeln, deshalb antwortete ich so neutral wie möglich. Ansonsten bekäme er noch eine Chance, etwas von mir zu erfahren, das ich nicht preiszugeben gewillt war.
"Durchaus nicht, Lady Nervensäge. Was ist an dem Tag von Theodors Unfall geschehen?"
"Ach halt den Mund, James! Du verstehest einfach nichts! Ich habe nichts beobachtet, das habe ich allen anderen schon gesagt. Ich werde dir keine andere Version erzählen! Ich kann dir keine andere Version erzählen!" Wütend stampfte ich auf den Boden auf und verlor kurz die Fassung. Vor mir blitzten immer wieder die Bilder von dem Tag auf. Wiehern, Hufe schlagen nieder. Jemand fällt und Boden. Schreie. Endlose Schreie. Peitschenhiebe. Krachen. Wieder schlagen Hufe nieder. Das Schreien hört nicht auf. Ich will das es aufhört! Es darf nicht wahr sein! Es muss einfach ein Traum sein! Ein ohrenbetäubendes Krachen und die Schreie verstummen. Pferde wiehern auf und Hufe klappern immer schneller über den Weg. Kutschenräder rattern. Ich renne. Sekunden erscheinen wie Jahre. Das darf einfach nicht wahr sein! Die Tür knallt auf. Rädern rattern davon. Er wirft einen Blick zurück. Leise entkam mir ein Wimmern.
"Was ist? Geht es dir nicht gut?" Sofort war er von seinem aggressiven Tonfall zu einem besorgten gewechselt.
"Natürlich geht es mir gut! Wieso sollte es mir auch nicht gut gehen? Ich meine, mein Leben ist perfekt! Der Sohn meines größten Feindes wurde überfahren und ich freue mich über meinen Triumph! Ist das Leben nicht wunderbar?", rief ich übertrieben fröhlich mit leicht hysterischem Unterton. Ich richtete mich gerade auf, da mir da erst aufgefallen war, wie ich ein wenig in mich zusammengesackt war.
James runzelte die Stirn. "Du hast ihn zu Cavendish gebracht, nicht wahr?"
Ich stutzte. Wie hatte er das schon wieder erraten. "Wieso sollte ich?" Meine Stimme zitterte.
"Weil es nicht das erste Mal war, dass du in diese Situation geraten bist. Und Cavendish, ich verkneife mir sogar deinetwegen eine Beleidigung, würde niemals etwas umsonst tun."
"Na und? Was ist dein Problem? Ja, Cavendish ist tatsächlich ein Geizhals, aber ist das, was ich getan habe, so schrecklich, dass man es dem ganzen Dorf erzählen muss."
"Nein, sicher nicht. Es ist nur so menschlich."
Entgeistert starrte ich ihn an und stampfte wieder.
"Entschuldige, ich meinte freundlich."
"Ich bin nicht gerne freundlich."
"Wieso diese Heimlichtuerei?"
"Ich sagte, ich bin nicht gerne freundlich."
"Ich weiß, aber ..."
"Nichts aber! Alles soll beim Alten bleiben! Oder glaubst du, dass Mister Foster auch nur eine Sekunde die Sachlage dulden würde? Dieser jämmerliche Bauerntrottel."
"Ach deshalb also ...", begann James wieder, doch dieses Mal rauschte ich durch die Tür und knallte sie hinter mir zu.
Er ist einfach so eine furchtbare Nervensäge! Ich kann ihn nicht leiden! Sollte ich wohl den Kontakt abbrechen? Lieber nicht, er ist zwar oft kindisch und idiotisch, aber auf Dauer würde ich wohl nur in meinen Gedanken versinken. Außerdem ist es beizeiten schon ganz lustig, sich mit ihm zu streiten.
Deine
Elisabeth"
Sie legte Brief und Feder beiseite und blickte aus dem Fenster. Sie hasste James beizeiten, aber da gab es noch ein Gefühl das überwog, das sie aber nicht feststellen konnte. Was war es nur, dass sie immer dazu brachte, seine oft rücksichtslose und beleidigende Art zu vergessen und ihre Überheblichkeit für einen Moment fallen zu lassen?
Es gibt Menschen, die man öfters hasst und die man dennoch niemals missen möchte. Denn seit Urzeiten gibt es etwas, das stärker als jeder Hass der Welt ist---
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Rose Village-der Duft von Rosen
Historical FictionLangsam hatte ich Rose Village satt. Von wegen rosiges Leben - die reinste Tortur! Streit, Hass und Eifersucht, wohin man nur blickt. Und ich im Mittelpunkt von alledem. Ich war Lady Sky, doch ließ mich wie der letzte Dorftrottel behandeln. Weshalb...