11. Auf der Flucht

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"Fuck my pride. Fuck everything. I'm so desperately hungry for you..." — Henry Miller

Ich glaubte für einen Moment, das Bewusstsein verloren zu haben. Meine Kraft war bei Daris Heilung zerbröckelt. Der Strudel, in den Reed mich nun gerissen hatte, raubte mir den letzten Funken Energie.

Reed hielt mich wach.

„Wach bleiben, Herzblatt, wir müssen hier raus", sagte er und half mir aufzustehen.

Wir waren immer noch in den Kerkern. Es schien hier noch kälter geworden zu sein und noch unheimlicher.

Dari war fort. Keine Wachen waren in Sicht. Die Lichter waren allesamt erloschen, so dass Reed mit meinem Handy, das er mir wohl während des Sprungs irgendwann abgenommen hatte, uns den Weg erhellte.

„Welches Jahr?"

„Spielt das eine Rolle? Wir müssen hier raus und dann springen wir zurück", sagte er, nahm meine Hand in seine und zog mich mit sich.

Mir war furchtbar schwindelig. Alles drehte sich und ich fühlte mich alles andere als gut. Wenn man nie krank war, war es ein seltsames Gefühl, wenn man plötzlich sich doch sehr krank fühlte. Es war neu und überfordernd.

Mein Körper fühlte sich an, als bestünde er aus Gummi. Alle Muskeln zitterten, meine Knochen kamen mir so weich und haltlos vor.

In diesem Jahr wurde der Eingang zu den Kerkern nicht bewacht. Es gab auch keine Gefangenen hier. Der ganze Ort wirkte nicht so, als ob sich überhaupt generell jemand hier aufhalten würde.

Das Tor der Schule war bereits verschlossen, weswegen ich mal stark vermutete, dass wir zeitlich irgendwann nach den Dunklen Tagen waren. Also irgendwann nach 1895, wo die Schule dicht gemacht wurde. Es war im Grunde wirklich irrelevant, in welchem Jahr wir uns befanden. Andere Dinge waren wichtiger.

„Und nun? Wir springen draußen zurück und dann was? Du haust ab?"

„Und lasse dich allein?" Grinsend sah er zu mir. „Du hast mir versprochen, alles zu geben, was ich will, und ich will dich."

„Also hättest du ihm nicht geholfen, wenn ich das nicht gesagt hätte?"

„Doch, aber ich finde dein Angebot reizend und nehme es gern an. Außerdem brauchst du meine Nähe. Ich habe dir gerade enorm viel Kraft geraubt. Weichst du mir zu sehr von der Seite, kann das böse enden. Wir Partner geben uns unbewusst gegenseitig Kraft. Ich könnte dir jedoch auch ganz bewusst Kraft geben, aber dafür müssten wir uns noch näherkommen, Herzblatt und ich glaube nicht, dass du mir dann widerstehen könntest. Kräfteteilen hat eine sehr... besondere Wirkung auf einen." Er grinste weiterhin frech und am liebsten wäre ich beleidigt stehengeblieben, aber ich war zu müde, um mit ihm zu streiten.

Wenn er wollte, dass ich bei ihm bleibe, würde ich bei ihm bleiben. Er hatte meinen Bruder gerettet und außerdem hatte ich ihn vermisst. Seine Nähe war wie Balsam für meine Seele. Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich ständig von ihm zu entfernen. Ich konnte einfach nicht mehr.

Und wenn es mir anderenfalls noch schlechter gehen sollte, würde ich erst recht bleiben. Ich war zu müde.

„Keine schnippischen Kommentare?" Er zog die Augenbrauen in die Höhe und führte mich Stockwerk für Stockwerk hinauf. Wir sahen unterwegs niemanden und als wir an den ersten Fenstern vorbeikamen und ich den Nachthimmel sah, wusste ich auch wieso. Es war zu spät. Vermutlich schlief bereits jeder. Gab es in dieser Zeit nur keine Wachen?

„Ich bin zu müde dafür", antwortete ich ihm ehrlich und er zog mich enger an sich, ließ meine Hand los, um seinen Arm nun stützend um meine Taille zu legen.

Avenoir| Band 3 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt