48. Der letzte Tag

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"Better to get hurt by the truth than comforted with a lie." - Khaled Hosseini

Ich kam vor Reed bei mir daheim an. Außer ihm, Hayden und Kellin wusste keiner, dass ich überhaupt verschwunden war, und ich war froh darüber. Ich wollte nicht meiner ganzen Familie berichten müssen, dass ich erneut entführt worden war und noch weniger wollte ich erklären müssen, was mir Aurora gezeigt hatte.

Bevor ich irgendwelche Ausreden von ihnen allen höre, bevor ihre Worte mir nur mal wieder den Kopf verdrehen würden, wollte ich meine eigenen Nachforschungen tätigen.

Eigentlich hatte ich mich damit abgefunden, ahnungslos zu sterben. Es war meine eigene Entscheidung gewesen, aber das, was ich gesehen hatte, es ließ mich nicht los.

Der Anblick von diesem Grab, was Rowan gesagt hatte, einfach alles, es irritierte mich, machte mich nervös, so dass ich regelrecht das Armband an meinem Handgelenk im Todesgriff umklammert hielt, versuchte mich nicht zu sehr verunsichern zu lassen.

Ich stürmte so regelrecht nach oben in die Bibliothek, bevor Reed hier auftauchen würde. In dieser suchte ich das Stammbuch meiner Familie auf. So lange hatte ich es nun lesen wollen, nun ging mir die Zeit aus.

Ich hätte das hier längst hinter mich bringen sollen. Ich hatte es viel zu lange aufgeschoben, vermutlich weil irgendein Teil in mir sich immer davor gefürchtet hatte, was mich in diesem Buch für Wahrheiten konfrontieren würden. Nun war es egal. Wenn bald alles enden würde, sollte es egal sein.

Ich klappte das schwere alte Teil auf und blätterte fast zum Ende. Da war eine Seit über Dari und eine über mich. Gut, das hatte ich bereits gesehen, damals, beim Geburtstag meines Großvaters.

Ich seufzte erleichtert. Das Grab musste eine Täuschung gewesen sein. Ein letzter böser Trick Rowans. Zu welchem Sinn und Zweck auch immer. Hier war ja der eindeutige Beweis, dass ich lebte. Das war meine Seite, mit meinem Bild, meinem Geburtstag und ohne Todesdatum.

Wie hatte ich mich auch nur eine Sekunde in die Irre führen lassen können?

Ich musste aufhören, mich von diesen Leuten in den Wahnsinn treiben zu lassen. Ich wusste, wer ich war. Ich erinnerte mich immerhin an mein Leben, an meine Kindheit, alles, was je geschehen ist, und da war ich gewiss nie gestorben. Es wäre unmöglich.

Meine Nerven gingen mit mir durch. Bei meinem drohenden Tod morgen, verlor ich wohl langsam den Verstand. Das alles sollte mir egal sein. Ich wollte meinen Frieden.

Ich wollte das Buch schon zuklappen, als mir was auffiel. Ich zog die Stirn kraus und blätterte hin und her zwischen den Seiten. Das Papier war... anders. Ich blätterte zum Ende des Buches, wo es noch viele leere Seite gab, die gefüllt werden würden, und da bemerkte ich, dass eine Seite ganz am Ende vorsichtig herausgerissen wurde. Würde man nicht genau hinsehen, würde man es kaum bemerken.

Ich blätterte zurück zu meiner Seite, die eindeutig nachträglich eingefügt wurde. Ich sah den feinen Klebestreifen, der mir nie aufgefallen wäre, hätte ich nicht nach etwas Ungewöhnlichem gesucht.

„Was hat das zu bedeuten?", murmelte ich leise und blätterte noch weiter zurück. Keine andere Seite wurde so nachträglich eingefügt. Wieso ausgerechnet meine? War es reiner Zufall?

Wieso nur? Hatte jemand bei meiner Seite geschlampt und musste etwas ausgebessert werden? Fehler passieren, aber wie wahrscheinlich war das schon? Instinktiv griff ich wieder nach dem Armband an meinem Handgelenk, versuchte mich ruhig zu halten.
„Was machst du da?" Ich hätte fast aufgeschrien, so unbemerkt hatte Reed sich in die Bibliothek schleichen können. Ich hinterfragte gar nicht erst, wie er ins Haus gekommen war.

Avenoir| Band 3 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt