49. Reeds Geschichte

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"Now I have to remember you for longer than I have known you." - C. C. Aural

„Du bist Grace."

Der Satz hallte im Raum und löste kurze Stille aus. Er löste Chaos aus. Er löste das Ende von allem aus. Es war ein so kurzer und einfacher Satz und doch lag so enorm viel Macht in ihm. Mein Mund stand leicht offen und ich sah Reed an, ohne zu wissen, was ich sagen sollte. Acyn war ebenso sprachlos, so dass Reed derjenige war, der als erstes wieder zu Reden anfing. „Ich weiß, es klingt verrückt und komisch und-"
„Stopp", sagte ich leise. „Ich will es nicht hören. Ich bin nicht Grace. Ich kann nicht Grace sein!" Das ergab keinen Sinn. Es durfte einfach keinen Sinn ergeben. Wenn es wahr wäre... nein, es würde alles, woran ich je geglaubt hatte, ruinieren. Ich war nicht bereit hierfür. Ich wusste nicht, ob man für so etwas je bereit sein könnte, aber ich war es gewiss nicht.

Wie sollte ich jemand anderes sein? Ich war Alice! Es war unmöglich, dass ich irgendwer anderes als Alice sein konnte. So etwas wollte ich nicht wahrhaben. Nicht jetzt. Nicht, wenn alles drohte zu enden. Ich war nicht bereit dafür. Ich würde nie bereit für so etwas Absurdes sein!

„Du bist Grace", sagte Reed verzweifelt und wollte mich berühren, aber ich zuckte zusammen und so hielt er in seiner Bewegung inne.

„Ally", sagte nun Acyn sanft und ich sah zu ihm, hoffte, er würde Reeds Worte als Lüge abtun, aber so wie er mich ansah... nein.

„Ich bin Alice!"
„Ich weiß, es ist viel-"
„Nein, du weißt gar nichts", sagte ich aufgeschreckt und Reed wich weiter zurück, setzte sich auf die Fensterbank, während Acyn sich langsam auf den Sessel niederließ, vermutlich um nahe an der Türe zu sein, falls ich plötzlich das Weite suchen wollte, was mir gerade sehr gelegen kam, und doch wollte ein Teil von mir – ein sehr großer Teil sogar – hören, was Reed zu sagen hatte.

„Erzähl es mir. Erzähl mir alles oder ich verliere den Verstand!"

Er nickte. „Ok, ja, ich erzähle dir alles, versuch einfach nur... versuch alles langsam zu verarbeiten, versuch irgendwie ruhig zu bleiben."

Ruhig bleiben?

Ich lachte leicht hysterisch auf und konnte Reed ansehen, dass er es bereute überhaupt irgendwas gesagt zu haben, aber es war zu spät. Wie sollte ich so ein Geständnis einfach ignorieren? Ich wollte es gern, so unfassbar gern, aber es ging nicht.

„Ok, gut, wo fange ich da an... es ist ziemlich schwer. Kellin wollte mir helfen, falls ich dieses Gespräch je mit dir geführt hätte. Fuck. Ok, ok, ich beginne einfach am Anfang... ja, der Anfang ist gut. 1895, als du starbst-"
„Ich bin nicht tot!", sagte ich gereizt, zuckte zusammen, als er so leichtfertig über meinen Tod sprach, als sei ich gar nicht hier.

„Natürlich... als Grace starb... ich wollte nicht akzeptieren, dass du... dass sie tot ist. Unser Band existierte noch. Es war schwach, es war praktisch fort und mehr wie ein Echo von dem, was mal gewesen ist, aber es hat mich daran klammern lassen, sie wäre noch da." Er lächelte traurig und schien seine Gedanken zu sammeln. Es musste schwer sein. Natürlich war es schwer. Über hundert Jahre des Wahnsinns zu erklären konnte kaum leicht sein.

„Ich wusste nicht, ob ich es mir einbilde und es nachlassen würde mit der Zeit. Es war gut möglich, dass ich so in meiner Trauer versunken war, dass ich mir irgendwas einbildete, dass es nur eine Illusion war oder das Band einfach länger brauchte, um ganz zu verschwinden, aber das tat es nicht. Egal wie viele Tage, Jahre, Jahrzehnte auch vergingen, dieses Echo... es war da. Ich bin durch die Welt gereist auf der Suche nach anderen Wächtern, die wie ich ihren Partner verloren haben, und viele haben mir erzählt, dass sie anfangs auch glaubten, die Bindung noch vage zu spüren, aber nicht so wie ich, nicht so lange, nicht so intensiv. Ich war verwirrt von wo die Anziehung herkam. Ich suchte und suchte und suchte und fand keinen Ursprung. Nicht in London, nicht in England, nirgendwo auf der Welt. Es war als hätte ich einen Kompass in mir, der in alle Richtungen gleichzeitig zeigte und mir einfach nicht den richtigen Weg deuten konnte. Ich verlor den Verstand auf der Suche nach dir, ich glaubte, die Götter hätte mich bestraft, weil ich nicht auf dich aufgepasst hatte, weil ich dich in den Tod getrieben hatte."

Avenoir| Band 3 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt