34. Schicksalsgötter

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"The things I want to remember I can't, and the things I try so hard to forget just keep coming." — Paula Hawkins

Wir waren eine seltsame kleine Gruppe an einem seltsam schaurigen Ort. Ich war in den letzten Monaten in den unterschiedlichsten Konstellationen unterwegs gewesen, aber ich glaube unser Trio hier und jetzt hatte bisher nichts toppen können. Es lag besonders daran, dass wir beinahe gemütlich durch die Wege der Unterwelt schritten und Reed und ich uns komplett darauf verlassen müssten, dass Andrea uns nicht hintergeht. Das konnte nur in einem Fiasko enden. Ich weiß ehrlich nicht, was wir uns hierbei gedacht hatten. Gar nichts vermutlich. Wenn wir an die Güte in Andrea appellierten, war es naiv von uns. Wir würden schon ein wahres Wunder brauchen, um aus dieser Mission erfolgreich oder überhaupt lebend herauszukommen.

Nichts war zu hören. Absolut gar nichts. Nur unsere Schritte auf dem Boden, doch ansonsten nichts. Keine Tiere, kein Wind, kein Anzeichen für irgendein Leben. Musste es nicht irgendwas geben? Hier lebten doch Wesen, oder nicht? Dämonen oder andere Götter oder sonst irgendwas. Ich wollte gern Konversation führen, einfach um meine Angst zu lindern, aber mir fiel kein Thema ein. Es gab zu viel, worüber ich reden wollte und doch würde keines dieser Themen es schaffen, meine Angst zu mindern. Ganz im Gegenteil. Ich klammerte mich an Reeds Hand fest, als würde mein Leben davon abhängen.

„Weißt du, wo du hinmusst, oder hoffst du einfach auf ein Wunder?", fragte Reed und durchbrach die Stille.

„Ich habe eine Vermutung. Wie du weißt, bin ich lange fort gewesen und die Zeit hier verläuft anders als bei euch. Es wird sich einiges verändert haben, aber ich hoffe die Vorgehensweisen meiner Mutter sind noch die gleichen."
„Sie verläuft anders?" Irritiert sah ich zu ihr.

„Schneller. Tage und Wochen vergehen hier und bei euch auf der Erde sind paar Minuten verstrichen."

Das war erschreckend.

Wie lange war Daisy dann schon hier? Sie war seit Monaten fort, bedeutete das, es waren für sie bereits Jahrzehnte hier vergangen? War sie überhaupt noch das Mädchen von einst? Wie könnte sie es schon sein, wenn sie hier sein muss?

„Praktisch, wir verlieren also keine Zeit", sagte Reed vergnügt.

„Hast du dir in all der Zeit auf der Erde nie überlegt, zurückzugehen? Es muss doch furchtbar einsam für dich gewesen sein", fragte ich Andrea, wollte das Gespräch nun, wo es im Gange war, auch weiterführen.

„Du siehst, wie es hier aussieht und was los ist. Ich meine, die Kriege sind jetzt eindeutig vorbei, fürs erste zumindest, aber damals war es schrecklich. Tausende und tausende von Jahren voll Krieg und Elend. Dem zu entkommen war das größte Geschenk gewesen. Ich wusste während meiner Zeit auf der Erde nicht, was hier los war. Die Wege zur Unterwelt wurden kurz nach meiner Flucht durchtrennt. Ich hätte zurückgehen können, aber wenn dort nichts mehr auf mich gewartet hätte, dann wäre ich dort festgesteckt. Erneut wäre ich nicht entkommen. Keiner kann einfach so mehr gehen."
„Aber ein Leben auf der Flucht muss auch unschön gewesen sein."
Sie lachte trocken auf. „Vertrau mir, das weiß ich. Die Irrenanstalt war noch ein recht bequemer Ort gewesen. Ich habe viel erlebt, habe viel vergessen. Wenn du vor der Realität fliehst, fängst du schnell an zu vergessen, wer du eigentlich bist. Manchmal braucht man etwas Hilfe, um sich zu erinnern. Gewisse Gerüche oder Gegenstände oder Orte können helfen. Gesichter sind jedoch die wahren Tore vergangener Erinnerungen. Du wirst nie vergessen, wenn du in die richtigen Augen siehst." Sie lächelte mich beinahe verschwörerisch an und ich zog irritiert die Stirn kraus. Sollte das heißen, sie hatte sich wegen ein Paar Augen erinnert?

„Und hier zu sein lässt dich sicherlich wieder an alles erinnern", merkte Reed an und mit einem grimmigen Lächeln sah Andrea zu ihm.

„In der Tat. Ich bin Kalma, Tochter von Tuonetar. Ich bin die Göttin des Todes und der Verwesung und mein treuster Begleiter ist Surma, der meine Feinde in den Tod reißt."

Avenoir| Band 3 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt