35. Reeds Sicht Teil 3

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"You're the type of person that makes forever feel too short." — Witt Lowry

Reed

Die Idee in die Unterwelt zu gehen, mochte unüberlegt und riskant erscheinen. Sicher war sie es auch in vielen Aspekten und ich war mir sicher, dass Alice mich gerade verfluchte und nicht verstand, wie sie sich hierauf hatte einlassen können. Ganz ehrlich, ich war ziemlich überrascht, dass sie das hier ohne viel Planung hatte durchziehen wollen. Ich wusste, wieso sie es tat. Sie fühlte sich elendig, dass Malia bei Rowan war, sie hasste es, dass wir nicht vorankamen, dass wir zu verlieren drohten. Es hatte sie leichtsinnig handeln lassen, es hatte sie so einfach überzeugen können, dass wir diese Mission gleich am ersten Tag durchziehen, wo wir die Armreifen erhalten.

Für mich war es das nicht. Für mich war all das hier sicher kein völlig hirnloses Vorgehen. Ich hatte mir schon lange überlegt, wie ich mir Andrea zu Nutzen machen könnte. Seit ich sie 1910 gefunden hatte, hatte ich kaum über etwas anderes nachgedacht, auch wenn ich gezweifelt hatte, dass es je klappen könnte. Alice hatte das Unmögliche für mich möglich gemacht. Während dieser vielen Überlegungen war mir immer bewusst gewesen, dass Andrea hier in der Unterwelt die wahre Stärke haben würde, dass ich hier keine Kontrolle über sie besitzen würde. Es war dadurch ziemlich waghalsig, es war im Grunde lebensmüde uns so in ihre Fänge zu begeben und ich wusste, dass ich bei ihr keine freundschaftlichen Gefühle erweckte. Also appellierte ich an ihre Dankbarkeit. Sie wollte sicher nicht nach Hause mit der Ungewissheit, was sie hier erwarten würde, aber ihre Mutter würde sich über ihre Tochter freuen und ob sie es wollte oder nicht, damit stand sie nun einmal in der Schuld der Person, die sie ihr zurückbrachte. Ich betete deswegen zu allen Göttern, dass Alice in Sicherheit war. Sie war klug, sie war gerissen und sie war eine Kämpferin. Ich vertraute stark darauf, dass sie sich zu helfen wissen würde. Andrea schien sie zu mögen, was gut war, es würde ihr hoffentlich helfen. Ich würde sie so schnell es ging suchen. Ich würde alles geben, um ganz schnell zu ihr zurückzukommen. Aber erst müsste ich das zu Ende bringen, wofür ich eigentlich hergekommen war. Nein, ich war nicht nur wegen eines vermeintlichen Deals mit Tuonetar hier. Dieser Deal wäre wichtig und kostbar, aber all das hier nur dafür zu riskieren, wäre wirklich dumm gewesen. Ich würde keinen Göttern so leicht trauen. Die meisten hatten zu hinterhältige Absichten was Alice anging. Hades war eine seltene Ausnahme, auch wenn ich selbst diesen ungern in Alice ihrer Nähe wissen wollte. Nein, es wäre dumm gewesen, alles für so einen Deal zu opfern, besonders dafür den Dolch an Rowan herzugeben.

Mein Magen zog sich zusammen. Dieser verdammte Dolch. Ich hatte ja befürchtet, dass er irgendwo im Haus der Noirs sein könnte, aber das Rowan ihn nun wirklich besaß, war etwas, das ich für viele, viele Jahrzehnte hatte verhindern wollen. Es war nun einmal so, wie es war. Das hier war wichtiger. Es sah zwar aus, als ob alles hier zu einer Katastrophe zusammengelaufen wäre, aber hier zu sein war wichtig und ich war nicht bereit zu gehen, ehe ich nicht mein Ziel erreicht und anschließend Alice gefunden hätte. Ich hatte der Bestie Andreas nur entkommen können, weil ich mich beinahe lebensmüde in den verdammten Wald gestürzt hatte, der wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war und in dem es zu schneien schien. Wie konnte es hier schneien? Überall sonst war die reinste trockene Verdammnis gewesen und hier lag mitten in einem saftig grünen Wald Schnee. Der Surma hatte auf jeden Fall zu viel Angst gehabt, mir hierhin zu folgen, was schon einmal kein gutes Zeichen war, doch fürs erste versuchte ich einfach nur sicherzugehen, dass die Bestie nicht doch irgendwo auf mich warten würde. Langsam bewegte ich mich am Rande des Waldes vorwärts, stapfte durch den Schnee und lauschte nach einer Bedrohung.

Ich hatte keine Zeit hierfür. Mir gefiel es nicht von Alice getrennt zu sein, auch wenn ich ehrlich zugeben musste, dass sie allein bessere Chancen hatte einen Gefallen aus Tuonetar zu fordern als mit mir. Ich weckte nicht gerade sympathische Gefühle bei anderen. Alice hingegen schaffte es, die Leute von sich einzunehmen, auch wenn ich trotzdem befürchtete, dass diese Gottheit es auf die Kraft von Alice abgesehen haben könnte. Hoffentlich würde ihre Dankbarkeit für ihre Tochter sie davon abhalten. Alice würde es schon schaffen. Sie hatte schon andere Dinge geschafft. Außerdem musste ich zugeben, dass mein Vorhaben ohne sie an meiner Seite wiederum leichter wäre, denn ich war hier auf der Suche nach einem Toten. Wenn jemand starb, fand die Person in irgendeinem Teil der Unterwelt ihre letzte Ruhe. Nur weil ich hier war, konnte die Person allerdings nicht gleich zu mir und mich aufsuchen. Tote waren an ihre Orte gebunden und konnten sich nicht so frei bewegen wie die Götter, Dämonen oder anderen Kreaturen, die hier lebten. Ich konnte deswegen auch nicht leicht einem begegnen. Kein Toter würde sich so weit am Rande der Unterwelt aufhalten, das hier war nicht der Ort, an dem sie ihre Ruhe fanden. Wie gut, dass es Möglichkeiten gab, die Toten herzurufen, wenn man erst in der Unterwelt war, und genau das hatte ich vor.

Avenoir| Band 3 [18+] ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt