✔Kapitel 7

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Kapitel 7

Es war mittlerweile zwei Uhr nachts, als Harry auf dem Balkon, der an sein Zimmer angrenzte, saß und die Sterne, die in dieser Nacht besonders hell leuchteten, beobachtete.


Eigentlich würde er um diese Zeit gemütlich in seinem Bett liegen und schlafen, aber seine Mutter sagte, dass er am nächsten Tag zu Hause bleiben durfte und nicht zur Schule gehen müsste. Und da Harry den halben Nachmittag und Abend mit Schlafen verbracht hatte, war er sowieso nicht müde.


In manchen Nächten, wenn seine Mutter bereits schlief, ging Harry heimlich nachts hinaus in den Garten, legte sich flach auf die Wiese, beobachtete die Sterne und genoss die Stille der Nacht. Harry liebte diese Zeit des Tages. Keine Autos, die über die Straße fuhren, keine Menschen, die umherliefen, keine Kinder, die in den Gärten spielten und lachten. Harry kam es nachts vor wie eine andere Welt. Stille, nur hin und wieder waren die Rufe von Eulen aus dem angrenzenden Wald zu hören. Harry fand es faszinierend, wie sehr der Tag und die Nacht sich unterschieden.


Harry entschloss sich auch heute dazu, in den Garten zu gehen. Das Wetter war noch angenehm, nicht zu kalt und nicht zu warm. Er schlich sich leise die Treppe nach unten durch die Küche zur Hintertür des Hauses. Als er den Garten betrat, atmete er die frische Brise der Nachtluft ein. Es roch nach frisch gemähten Gras und etwas nach Regen. Harry war sich sicher, dass es in dieser Nacht noch regnen würde. Als Kind hatten ihn die Regentropfen immer fasziniert. Er saß mit Gemma am Fenster, wenn die Regentropfen auf die Scheiben prasselten. Fasziniert beobachteten sie damals, wie sie an dem Glas nach unten liefen und schlossen Wetten ab, welcher Tropfen als Erstes unten ankam. Gemma hatte fast immer gewonnen, weswegen Harry dann meistens als Strafe den Müll rausbringen oder den Abwasch machen musste.

Harry musste lächeln bei den Erinnerungen an diese Zeiten. Seine Gedanken wurden durch das Motorengeräusch eines Autos unterbrochen. Es war seltsam, nachts fuhren nur sehr selten Autos in der kleinen Straße, in der Harry wohnte. Er konnte hören, wie das Auto die Einfahrt des Nachbarhauses hochfuhr, gefolgt von sich öffnenden Türen und lauten Stimmen. Danach wurde eine Autotür zugeschlagen und man konnte Schritte hören, die durch das Laub gingen.

Harry wurde neugierig, er wusste, dass die neuen Nachbarn heute eingezogen waren. Das hatte ihm seine Mutter erzählt.


Langsam erhob Harry sich vom Boden und lief in die Richtung des Nachbargartens. Er sah eine Gestalt, die leicht schwankend um das Haus herumlief. Harry näherte sich mit langsamen Schritten und als die Gestalt unter dem Licht der Straßenlaterne kurz stehen blieb, konnte Harry einen Blick auf die nun nicht mehr von der Dunkelheit verborgenen Person werfen. Ihm stockte der Atem, als er erkannte, wer dort stand. "Louis", hauchte er erschrocken.


Louis' Kopf schoss bei seinem Namen sofort nach oben und er schaute Harry mit geweiteten Augen an. "Bist du ein kranker Stalker?" Harry konnte hören, dass Louis betrunken war. Er mochte Alkohol nicht. Alkohol war der Grund dafür, dass sein Vater nicht mehr bei ihnen lebte. "Nein, ich bin kein Stalker", gab Harry als Antwort. "Warum bist du dann hier, wenn du kein Stalker bist?" Louis ging an Harry vorbei und lief in Richtung seines Gartens. "Ich wohne hier?", gab Harry schnippisch zurück, als wenn Louis nicht selbst auf die Antwort kam. "Was?" Louis hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich zu Harry um. "Du bist unser Nachbar?", fragte er geschockt und Harry nickte. "Na klasse." Louis drehte sich wieder um und lief zu einem Baum, der vor dem Fenster stand. Als Harry sah, dass Louis auf den Baum klettern wollte, stoppte er ihn. "Was machst du da?" Louis hielt inne. "Wonach sieht's denn aus? Ich kletter diesen scheiß Baum nach oben." Harry verstand nicht. "Warum?" Seufzend sah Louis zu Harry. "Weil ich meinen verdammten Schlüssel vergessen habe? Und da oben ist mein Zimmer. Ich will meine Mum nicht wecken, die würde nur wieder einen Aufstand machen." Der Lockenkopf schüttelte den Kopf. "Du wirst dich verletzen, wenn du nach unten fällst." Louis ignorierte sein Gegenüber und fing an zu klettern.

Harry wollte sich gerade umdrehen, um ins Haus zurückzukehren, als ein Knacken und ein kurzer Aufschrei ihn wieder herumfahren ließen. Louis lag am Boden und verzog schmerzerfüllt sein Gesicht. Harry rannte zu ihm und kniete sich neben Louis. "Hast du dich verletzt?" Er ließ seine Augen über Louis' Körper wandern, um nach Verletzungen zu suchen. Am Arm hielt er inne und sah, dass eine rote Flüssigkeit an Louis' Oberarm hinunterlief. "Louis, dein Arm, das muss gereinigt werden." Stöhnend setzte Louis sich auf und schaute auf seinen verletzten Arm. "Ist halb so wild." Harry erhob sich wieder, sein Blick nicht von Louis' Arm abwendend. " Nein, komm ... komm mit rein, ich gebe dir etwas für deine Wunde." Verwirrt blickte Louis hinauf zu dem Lockenkopf. "Du willst, dass ich mit zu dir ins Haus komme?" Harry wusste nicht, warum er das tat, aber er wollte Louis helfen, auch wenn er sonst so gemein zu ihm war. "Du ... du, also du musst nicht, aber das", Harry zeigte mit seinem Finger auf Louis' Wunde, "sieht nicht gut aus und du solltest es wirklich behandeln." Louis überlegte und Harry bereute seine dumme Frage. Natürlich wollte Louis nicht zu ihm ins Haus. Dem Freak der ganzen Schule. Er hatte sich lächerlich gemacht. "Okay, ich komme mit." Erstaunt über Louis' Antwort musste Harry leicht lächeln. Louis erhob sich vom Boden und folgte Harry - der an der Tür wieder bis fünf zählte, was Louis irritierte - ins Haus in dessen Badezimmer.


Louis setzte sich auf den Rand der Badewanne und beobachtete Harry, der die Schränke durchwühlte. Louis musste sich eingestehen, dass Harry eigentlich wirklich gut aussah. Er hatte nie wirklich darauf geachtet, aber jetzt hier in seiner Sporthose, die nicht da saß, wo sie hingehörte, als Harry sich bückte, und einem weißen Tanktop sah er wirklich verboten gut aus. Es war kein Geheimnis, dass er auf Jungs und Mädchen gleichermaßen stand. Er hatte es öffentlich gemacht, als er 16 war, und da er der Anführer der einflussreichsten Gang der Schule war, hatte sich keiner gewagt etwas Schlechtes zu sagen oder ihn gar zu beleidigen.

Nach kurzer Zeit kam Harry mit einem Verbandskasten und Desinfektionsmittel auf Louis zu und hielt es ihm hin.

"Da ist alles drin, was du brauchst." Louis schmunzelte, als er sah, wie unsicher Harry war. "Solltest das nicht eigentlich du machen? So läuft das doch in diesen kitschigen Liebesfilmen, oder?" Harry zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, ich guck keine Liebesfilme." Louis musste leicht lachen, als er bemerkte, dass Harry seine Anspielung wohl nicht verstand. Er öffnete den Verbandskasten und nahm ein Stück Mull heraus, tropfte etwas Desinfektionsmittel darauf und tupfte es auf die Wunde. Ein leises Zischen kam aus seinem Mund, als er bemerkte, dass es brannte. Er sah, dass Harry ihn dir ganze Zeit beobachtete, und musste lächeln. "Und du kannst andere Menschen also wirklich nicht anfassen?", brach Louis die Stille. "Nur Menschen, denen ich vertraue." Louis spürte ein ungutes Gefühl in seinem Magen. Er konnte verstehen, dass Harry ihm nicht vertraute, und er fühlte sich schuldig, dass Harry wegen ihm einen Anfall hatte. "Harry ... ich", er stoppte, suchte nach den richtigen Worten, "Ich ... Also, es tut mir leid, was heute passiert ist. Ich wusste nicht, dass du, also, du weißt schon was bist." Beschämt schaute Louis auf den Boden. Er wollte nicht sagen, dass Harry krank war, er wusste nicht, wie Harry sich bei diesem Wort fühlte. Harry war erstaunt, dass Louis ihn bei seinem Vornamen nannte, antwortete aber trotzdem kühl: "Was, dass ich krank bin? Sprich es nur aus, ich höre so oft, dass ich krank bin, es stört mich mittlerweile nicht mehr. Ich bin ein Freak, das sagtest du doch." Louis schlechtes Gewissen wurde bei Harrys Worten noch schlimmer, und er wusste, dass er verdient hatte sich so schlecht zu fühlen.

"Es tut mir wirklich leid, okay? Und ich entschuldige mich normalerweise niemals." Harry setzte sich auf den Boden und schaute Louis an, natürlich nicht direkt, sondern an ihm vorbei an die kahlen Fliesen der Badezimmerwand. "Warum tust du es jetzt?", fragte er und war wirklich gespannt auf die Antwort. "Was meinst du?", fragte Louis verwirrt. "Warum entschuldigst du dich bei mir, wenn du es normalerweise nicht tust?", wiederholte Harry seine Frage nun deutlicher. "Das spielt keine Rolle. Ich tue es einfach", gab Louis leicht bissig zurück. Er wollte Harry nicht von seinem Cousin erzählen. Es würde ihn verletzlich machen, und das konnte Louis nicht zulassen. "Ich verstehe dich nicht, Louis. Mal bist du gemein zu mir, dann bist du nett und jetzt wirst du wieder sauer". Louis seufzte. "Kannst du es nicht einfach akzeptieren, dass es mir leid tut und mich nicht weiter nerven?" Traurig sah Harry zu Boden. "Ach fuck, verdammt. Ich mach auch alles falsch." Louis stützte seine Ellenbogen auf seine Oberschenkel und ließ seinen Kopf in seine Hände fallen. Harry wusste nicht, was mit Louis gerade los war. Er konnte mit so viel Gefühl und Emotion nicht umgehen und sie nur schwer deuten und verstehen. "Was ist los, Louis?", fragte er deshalb unsicher. Louis hob seinen Kopf und sah in Harrys Augen, auch wenn dieser nicht zurückschaute. "Du hast wunderschöne Augen, weißt du das?", sagte Louis, ohne auf Harrys Frage einzugehen.

✔Asperger 1 - I'm not a Freak •|• Larry [In Überarbeitung]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt