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2016

Die Stimmen um mich herum waren zu laut, die Schritte zu schwer und das Gerede zu präsent.
Auf einmal wurde es still.
Sehr still.
Unterbrochen wurde diese Stille nur von einem leisen Klacken und meinen Schritten.
Dann brach das Getuschel los.
Zischend wie Schlangen zerrissen sie sich die Mäuler.
Mein Kopf brummte und ich konzentrierte mich auf die Bewegungen meines Stockes.
Ich hatte das Gebäude schon so verinnerlicht, dass ich genau wusste, wo Stufen waren, wie lange der Korridor zur Haupteingangstür war und wann ich um die Ecke biegen musste.
Doch wenn es so voll war, wie heute, türmten sich die Stolperfallen in Form von Leuten, Taschen und Spitzenschuhen nur so auf den Gängen.
Mein Stock stieß gegen das harte Holz der Tür.
Ich tastete vorsichtig nach dem großen Griff, doch eine Hand kam mir zuvor und öffnete mir die Tür.
„Danke."
Ich sprach in die Richtung, in der ich die unbekannte Person vermutete.
„Gern geschehen."
Als ein Junge antwortete war ich mir sicher, dass ich in die richtige Richtung gesprochen hatte.
Schnell trat ich auf die steinernen Stufen hinaus und stieg die Stufen, mit viel Hilfe des Geländers, hinunter.
„Amy!"
Die Stimme meiner Schwester erreichte mich und ich blieb stehen.
Ich wusste, sie würde auf mich zukommen.
Das hatte sie schon immer so gemacht.
Und ich sollte Recht behalten, als sich eine Hand an meinen Arm legte und mich in Richtung der Parkplätze zog.
Olivia hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich jeden Tag in ihrer Mittagspause vonder Schule abzuholen.
Ich war 19 Jahre alt verdammt, ich sollte selbst nach Hause fahren können.
Doch die Dunkelheit vor meinen Augen machte das unmöglich.
Und ich hasste sie jeden verdammten Tag dafür, dass sie mein Leben zerstört hatte.
„Willst du was essen gehen, bevor ich dich heimfahre?"
Olivia riss mich aus meinen dunklen Gedanken.
Ich schüttelte nur den Kopf.
Das Klicken der Autoverriegelung ertönte, als ich direkt davor zum Stehen kam.
Vorsichtig tastete ich nach dem Griff und öffnete die Tür.
„Warte. Ich helf dir."
Ich seufzte.
Seit ich letzte Woche dreimal mit dem Kopf direkt gegen die Kante des Autodachs gestoßen war hielt sie es für nötig, mir besonders dabei zu helfen.
„Gehst du heute wieder zu Sebastian?"
„Ja. Ich möchte an der neuen Choreografie arbeiten."
Olivia startete das Auto.
„Wann gehst du zu ihm?"
Ich musste kurz nachdenken.
„Wahrscheinlich so gegen halb sechs. Ich werde Mum fragen, ob sie mich zu ihm fährt."
Olivia kicherte.
„Wenn du willst, kann ich dich auch fahren."
Verdutzt drehte ich den Kopf zu ihr, hatte sie heute denn keine Arbeit?
„Wiliam hat mich für den Mittag frei gestellt."
Jetzt war ich diejenige, die kicherte. Sie hatte so einen Vorteil, dass sie mit Wiliam zusammen war.
„Ist es nicht irgendwie unfair, dass du nur freibekommst, weil du mit deinem Boss vögelst?"
„Amy!"
Meine Schwester sog empört die Luft ein.
Ich lachte nur noch mehr, es tat gut, einfach mal unbeschwert zu sein.
Es geschah viel zu selten.
Sagte zumindest meine Therapeutin.
„Was denn, ist doch so. Ihr schiebt eine Runde in seinem Büro, du klimperst einmal mit den Wimpern und er gibt dir solange frei wie du willst."
„Amelia Rose Garib. Wenn du nicht gleich die Klappe hältst vergesse ich, dass du meinen Schwester bist und schmeiße dich aus meinem Auto."
Ich lachte erneut.
Und ich konnte spüren, dass sie ebenfalls schmunzelte.
„Wie war dein Tag heute?"
Sie wollte von dem Thema loskommen, war ja klar.
„Zu laut und zu voll. Ich hasse diese monatlichen Vortanzen, bei denen sie die Leistungszunahme der Schüler messen."
„Tut mir leid. Ist irgendetwas besonderes passiert?"
Ich legte den Kopf schief und dachte nach.
„Ja. Wenn ich so darüber nachdenke, ja dasgab es. Lauren hat total versagt."
Bevor Olivia fragen konnte, wie ich das, ohne sie gesehen zu haben, wissen konnte, fügte ich hinzu:
„Sie hat gestampft wie ein Elefant und Miss Saint-Gelais klang alles andere als begeistert."
Olivia kicherte.
„Was hat Miss Saint-Gelais zu deiner Idee gesagt, dass du ebenfalls vortanzen möchtest?"
Ich biss mir auf die Lippe um meine Enttäuschung über dieses Thema nicht zu arg zu zeigen.
„Sie meinte, ich zitiere: Ich finde es beeindruckend, dass du so ambitioniert bist und dich wieder in das normale Schulleben eingegliedert hast, doch ich bezweifle, dass das mit dem Tanzen wirklich Sinn macht. Nicht, dass du dich oder andere noch verletzt."
„Autsch."
Ich schnaubte.
„Was du nicht sagst. Dabei stand sie immer so hinter mir. Sie hat mich immer gefördert und gesagt ich hätte ein großes Talent. Warum gibt sie mich auf? Warum gibt mich jederauf? Nur wegen... wegen..."
Ich hielt inne, da ein Schluchzen meine Kehle verließ.
Das Nass auf meinen Wangen zeigte mir, dass ich die Enttäuschung nicht zurückhalten konnte.
„Amy. Hey. Es gibt dich doch keiner auf."
„Natürlich tun sie das. Alle. Ich merke das Gerede, ich weiß, welche Freunde ich verloren habe und ich höre, wie die Lehrer mit mir reden. Sie haben mich aufgegeben, weil sie denken, ich wäre nicht mehr in der Lage zu Tanzen. Nur wegen dieser ganzen Scheiße! Sie bestrafen mich, weil ich..."
Ich musste aufhören, sonst würde ich wirklich so richtig anfangen zu heulen.
„Niemand bestraft dich. Sie sind doch nur besorgt um dich."
„Ach. Erzähl mir doch keinen Scheiß! Niemand traut einem blinden Mädchen zu, dass sie tanzt. Noch dazu Ballett. An der besten Ballettschule Englands. Ich wette, sie denken schon darüber nach, mich rauszuschmeißen, um jemand anderem die Chance zugeben."
„Jetzt reiß dich endlich zusammen! Du bist doch noch nie so emotional gewesen. Wo ist die Amy hin, die einen Scheiß auf die Meinung ihrer Lehrer gegeben hat? Wo ist die Amy hin, die für ihre Ziele gekämpft hat?"
Ich wollte etwas erwidern, doch sie war noch nicht fertig.
„Amy. Du musst kämpfen. Ich weiß, du hast es schwer, doch du musst ihnen zeigen, dass du es kannst. Du musst es ihnen beweisen und dir selbst."
Ihre Stimme war aufbrausend.
„Verstehst du, was ich meine?"
Ja, ja das tat ich.
Wenn ich ihnen und mir beweisen konnte, dass ich sehr wohl noch die Leistung bringen konnte, die sie wollten, würde ich vielleicht wirklich wieder komplett ins Leben zurückkommen können.

AN: ein etwas spätes update, aber egal. Ich hoffe wie immer, dass es euch gefallen hat und dass ihr mir Votes und Kommentare da lasst :)
Xo Lena

Night changes everything (Deutsch) *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt