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"Er lag so eng an dir dran, es war dunkel und hab ihn einfach nicht erkannt. Ich denke mal Mum ging es genau so." Liv schwieg kurz und schnappte dann nach Luft. "Du musst zum Direktor? Warum den das? Was hast du angestellt? Bist du in Schwierigkeiten?"
Ich lachte auf, Liv war einfach die beste.
"Nein alles gut. Keine Sorge, Mutter."
Liv lachte auf und zog mich in eine Umarmung.
"Du weißt doch, ich mach mir immer Sorgen um dich."
Wir standen noch eine Weile so da, bis ich Sebas Schritte hinter mir hörte.
"Morgen. Hey Liv, sorry, wegen eben. Wollte dich nicht erschrecken."
Er klang so, als müsste er sich ein Grinsen verkneifen.
Liv und ich lachten gleichzeitig auf, ich, weil ich wusste, dass es Liv am liebsten gewesen wäre, wenn sie ihn nackt in meinem Bett gefunden hätte und Liv wahrscheinlich, weil sie seine Entschuldigung gut fand.
"Ich frag einfach nicht. Ich setz mich jetzt hin und trinke Kaffee, bis wir gehen."
Ich konnte mir Sebas' Blick nur zu gut vorstellen, dieser Ausdruck von Irritation und absoluter Sicherheit, dass wir in die Klapse gehörten.
"Weise Entscheidung Sebas."
Lachend setzte ich mich auf einen Stuhl in meiner Nähe und nahm einen Schluck Kaffee.
"Also ich geh dann zur Arbeit. Ihr beiden kommt klar, oder?"
"Ja Liv, alles gut."
Manchmal war sie wirklich wie eine zweite Mutter für mich und ich war ihr so dankbar dafür. Sie wusste, wie schwer die ganze Situation für mich war, wie hart es war, dass ich nicht Autofahren oder Arbeiten gehen konnte. Sie wusste es und sie war für mich da, ließ mich nicht im Stich und versuchte mich wiederaufzubauen.
"Amy, wir sollten gehen."
Wie so oft riss mich Sebas aus meinen Gedanken.
"Oh, okay. Ich räume nur noch kurz auf."
Ich griff nach der leeren Tasse, allerdings stieß ich sie dadurch vom Tisch und sie zersprang vor meinen Füßen.
"Verdammt!"
Ich tastete nach den Scherben, aber ich konnte sie nicht sehen, hin und wieder berührte ich eine, doch ich wusste, es war sinnlos, wirklich zu denken, dass ich sie alle aufheben konnte.
Sebas schob mich sanft weg und ich hörte, wie er die Scherben auf hob.
"Komm, lass mich das machen."
Ich schüttelte aber trotzig den Kopf.
"Nein, ich kann das."
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
Wieso nur musste ich blind sein?
Verdammt noch mal ich wollte in der Lage sein Scherben vom Boden auzuheben.
Wieder tastete ich nach den Scherben und schaffte es tatsächlich, mich an ihr zu schneiden. Ich zischte kurz auf und wurde dann wieder von Sebas weggeschoben.
"Amy, verdammt, ich mach das schon."
Sebas klang frustriert und ich verstand ihn.
Ich verstand, dass er keine Lust mehr auf mich hatte. Ich war erbärmlich. Ich konnte keine Tasse in die Küche bringen ohne sie zu zerbrechen, ich konnte keine Scherben aufheben, weil ich sie nicht sah, ich konnte nichts.
"Ich will aber, ich muss..." meine Stimme brach ab, ich schluckte immer wieder, aber mir blieben die Worte im Hals stecken.
Sebas war in die Küche gegangen, ich hörte das Klirren der Scherben als er sie in den Mülleimer warf und wieder zurückkam.
"Du musst gar nichts. Alles gut."
Ich atmete zittrig durch und versuchte mich zu beruhigen, doch es gelang mir nicht. Je mehr ich darüber nachdachte, dass ich gerade auf dem Boden vor ein paar Scherben kniete und nur dem Geräusch des Besens auf dem Boden zuhören konnte anstatt selbst etwas zu tun, desto wütender wurde ich.
"Ich hasse es."
Langsam stand ich auf, meine Hand von mir weggehalten um kein Blut auf meine frischen Klamotten zu bekommen. Ich versuchte mich zu erinnern, in welche Richtung ich gehen musste um zum Waschbecken zu kommen, aber ich war durch all die Aufregung so durch den Wind, dass ich es nicht mehr wusste. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte nach vorne und hielt meine Hand vor mir ausgestreckt für den Fall, dass ich gegen irgendetwas lief.
Leider half mir das nichts, als ich gegen die Küchentheke stoplterte, da sie leider unter meiner Handhöhe war.
Tränen liefen mir über das Gesicht, nicht wegen dem Schmerz, den war ich gewohnt, nein, es war weil ich nicht in der Lage war alleine in meinem Haus zu laufen ohne mich konzentrieren konnte. Es war, weil ich unfähig war alleine zu leben. Ich brauchte jemanden, der mich von der Schule abholte, jemanden der mich beobachtete wenn ich in der Küche war, jemanden, der meine Kaffeetasse an den Tisch brachte, damit ich nicht die heiße Flüssigkeit über meine Finger leerte.
Ich war abängig von jedem in meiner Umgebung.
Eigentlich wollte ich nächster Jahr meinen Abschluss an der Royal Academy of Dance machen und dannach an das Royal Ballet hier in London. Jetzt würde ich eine vereinfachte Version meines Abschlusses machen, damit sich die Zeit hier überhaupt gelohnt hat. An den Vortanzen durfte ich nicht teilnehmen, bei den Aufführungen war ich nicht dabei und wenn wir trainierten war ich immer ganz hinten an der Stange um niemanden zu behindern.
Ich stand einfach nur da, wurde von einem Schluchzen durchschüttelt und strich mir mit der unverletzten Hand die Tränen aus dem Gesicht.
"Amy!"
Ich hatte Sebas komplett vergessen, doch als er mich in den Arm nahm war ich einfach nur froh, dass er da war. Er strich mir über den Rücken, ließ mich an seiner Brust schluchzen und redete auf mich ein.
"Was ist denn los?"
Ich wollte nicht darüber reden, ich kam mir erbärmlich vor. Ich heulte in meiner Küche, weil mir eine Tasse runtergefallen war. Wie musste das wieder aussehen.
Aber ich konnte mich nicht beruhigen.
"Was ist mit deiner Hand?"
Sebas nahm sie in seine und drehte sie hin und her.
"Komm."
Er zog mich hinter sich her und ich hörte wie er den Wasserhahn aufdrehte. Vorsichtig hob er meine Hand unter das Wasser während ich immer noch schluchzend an ihn gelehnt da stand.
"Du musst... das nicht machen."
Ich hatte doch jetzt tatsächlich Schluckauf bekommen.
Konnte es noch schlimmer werden?
"Nein muss ich nicht, aber ich will. Ich will für dich da sein."
Mir liefen immer noch die Tränen übers Gesicht und als er das sagte begann auch das Schluchzen wieder.
Ich wollte doch gar nicht heulen. Ich wollte nicht dieses erbärmliche Häufchen Elend sein, ich wollte wieder das starke Mädchen von früher sein.
Ich wollte Sebas sehen können, wie er mich ansah wenn wir zusammen tanzten. Ich wollte meine Schwester wieder Lachen sehen und den stolzen Ausdruck in den Augen meiner Mutter.
Aber ich konnte es nicht.
Und ich würde es auch nie wieder sehen können.

Night changes everything (Deutsch) *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt