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Ich nahm Sebas Hände von meinem Gesicht und verschränkte meine Finger mit seinen. Seufzend sah ich ein, dass er Recht hatte.
Mal wieder.
"Du hast Recht, es ist mehr, als ich mir nach dem Unfall erträumt hatte. Danke."
Er zog mich wieder in seine Arme und ich vergrub das Gesicht an seiner Schulter.
"Du musst dich nicht bei mir bedanken, nicht dafür."
Ich schnitt eine Grimasse, doch er konnte sie Gott sei Dank nicht sehen. Langsam begann ich, Muster auf seinen Rücken zu malen, wanderte mit meinen Fingern immer weiter nach oben und war überrascht, wie lang sein Haar war, als ich seinen Nacken berührte. Früher hatte er es immer ganz kurz getragen, 9 mm mit dem Rasierer, wie er mir immer erzählte, wenn er vom Friseur kam und ich ihn fragte, wie lang er sie denn dieses Mal hatte stehen lassen. Jetzt konnte ich wirklich weiches Haar spüren und nicht das kurze Maulwurfsfell, dass er sonst immer auf dem Kopf hatte.
"Du trägst die Haare länger. Hättest du mir ja ruhig mal sagen können."
Sebas' Lachen vibrierte in seiner Brust.
"Schön, dass es dir auffällt."
Wir standen noch ein wenig so da, ich hörte auf, ihm die Haare abzutasten (eine komische Angewohnheit, seit ich blind war, ich tastete vieles ab, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es aussah) und genoß einfach die Zeit, die wir hatten.
Irgendwann schlief mir der Arm ein und ich sagte es Sebas.
Sebas lachte, strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und löste sich von mir.
"Komm, ich bring dich nach Hause."

Einige Tage später war ich wieder in 'unserem' Tanzstudio, wie jeden Tag.
Sebas und ich hatten enorme Fortschritte gemacht und ich hatte meine Leidenschaft fürs Tanzen langsam, Tag für Tag, wieder gefunden.
Ich wusste nicht, was genau es war, was diese Euphorie so in mir auslöste, aber ich genoß jeden Moment davon.

Wie immer stand ich auf meiner Position bereit, Sebastian hatte sich zur Stereoanlage begeben und wartete, bis ich in meiner Anfangspose stand, bevor er die Musik anmachte.
In meinem Inneren baute sich wieder dieses Gefühl von Freiheit und Glück auf, als ich zu den ersten Schritten ansetzte. Irgendwann hatte ich meine Gedanken abgeschaltet, ich wusste noch nicht einmal mehr, ob ich meine gelernte Choreografie tanzte oder nicht, aber es war mir egal.
Ich fühlte mich, als wäre ich losgelöst vonallem, als wären meine Probleme nicht da, als wäre ich nicht blind. Die Bewegungen meines Körpers harmonierten mit der Musik und ausnahmsweise schaffte ich die Sprünge ohne größere Schwierigkeiten.
In der Euphorie, in der ich mich gerade befand, bemerkte ich nicht, wie das Klingeln der Tür ertönte und jemand eintrat.
Der nächste Schritt sollte eigentlich der sein, der meinen finalen Sprung einleitete, doch aus dem Sprung wurde nichts, denn ich stieß gegen ein Hindernis.
Ein großes, relativ hartes Hindernis.
Ich ging zu Boden, und als wäre das nicht schon ärgerlich genug, vertrat ich mir den Fuß auch noch, beim Versuch nicht auf dem Hintern zu landen.
"Ah, verdammt."
Ein Schmerz schoss in meinen Knöchel und ich biss die Zähne zusammen.
Die Musik wurde ausgeschaltet und Sebas kam herbei geeilt.
"Amy!"
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und Sebas zog mich vorsichtig hoch.
Ich versuchte den Fuß zu belasten, zuckte aber nur zusammen, als sich der Schmerz stärker ausbreitete.
Sebas half mir zu einem Stuhl und ich setze mich langsam.
"Scheint dich ja echt zu interessieren, wie es deinem Kumpel geht."
Eine männliche Stimme erklang ein wenig von uns entfernt.
"Immerhin ist sie in mich gerannt."
Ich seufzte einmal auf und beschloss, ihn zu ignorieren. Vorsichtig löste ich die Bänder meines Spitzenschuhs und zog ihn noch vorsichtiger vom Fuß.
"Tut mir Leid. War keine Absicht."
Mit zusammengebissenen Zähnen wandte ich mich in die Richtung aus der die Stimme kam. Ich hatte erwartet, dass es damit wieder gut war, doch der Kerl konnte es nicht lassen.
"Wie kann das keine Absicht sein? Ich stand direkt vor dir."
Ich keuchte auf, als Sebas meinen Fuß in verschiedene Richtungen streckte.
"Eric, lass gut sein. Hol'mal lieber ein Kühlpad. Da hinten durch die Tür und dann rechts, da ist ein Kühlschrank."
Eric also. Von dem hatte ich schon lange nichts mehr gehört. Sebas und er waren super befreundet, bevor Eric in die USA davon ist um Jura zu studieren. Ich wusste, dass sie zwar hin und wieder Kontakt hatten, doch es war nicht mehr das, was es mal war.
"Seit wann ist Eric denn wieder da?"
Sebas machte sich immer noch an meinem Knöchel zu schaffen und ich versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren.
"Halt still. Eric ist gestern angekommen. Er hat das Studium in Amerika abgebrochen und macht jetzt hier weiter. Ich zitiere: 'Die Amis, die spinnen, ich will wieder auf die Insel zuück'."
Ich schüttelte den Kopf. Das war ja nichts neues.
"Du hast mir gar nicht erzählt, dass er wieder heim kommen will."
Es war nicht als Vorwurf gemeint, doch ein wenig irritiert war ich dann doch.
"Sorry,es war so viel los die letzten Tage. Da ist mir das wohl entfallen."
Ich nickte und lehnte mich ein wenig im Stuhl zurück.
"Ist das hier ok?"
Erics Stimme erklang wieder und ich hörte seine Schritte auf uns zu kommen.
"Ja, super. Danke."
Die plötzliche Kälte an meinem Knöchel ließ mich kurz zusammenzucken.
"Sorry."
Sebas kümmerte sich noch immer um meinen Fuß.
"Ich kann das auch selber machen. Kümmer' du dich lieber um deinen Kumpel."
"Amy hat Recht Bas. Sie schafft das auch allein. Es sei denn, sie stellt sich dabei so blöd an, wie eben beim laufen."
Eric war der einzige, der über diesen Witz lachte, aber Sebas griff nach meiner Hand und legte sie auf das Kühlpad und stand dann auf.
"Tut gut, dich mal wieder zu sehen. Aber ich seh schon, die Staaten haben dir nicht so gut getan. Bist ja noch hässlicher als davor."
Sebas lachte.
"Und du bist gewachsen, seit ich dich das letzte mal gesehen habe. Wie groß bist du jetzt? 1,50?"
Ich musste bei Erics Scherz aufprusten.
Die beiden tauschten noch ein paar weitere "Komplimente" aus, bevor sie sich wieder mir zu wendeten.
"Amy, wie geht es dem Knöchel?"
Sebas klang mal wieder viel zu besorgt. Umständlich stand ich auf und belastete vorsichtig meinen Fuß. Es tat immer noch weh, doch es ging schon wieder besser.
"Wieder besser. War glücklicherweise kein allzu schlimmer Sturz. Überrascht mich, nachdem ich gegen diese Wand gelaufen bin."
Ich dehnte meinen Fuß ein wenig, testete verschiedene Bewegungen aus.
"Entschuldige mal, du hättest auch einfach die Augen aufmachen können. Dann wärst du nicht gegen mich gelaufen."
Kopfschüttelnd ging ich in die Richtung, in der ich beide Jungs vermutete.
"Das gestaltet sich dann doch etwas schwieriger. Ich bin überrascht, dass Sebas es nicht erwähnt hat."
Ich humpelte immer noch leicht, doch es würde schnell wieder wie zuvor sein.
"Was erwähnt?"
Erwusste es also tatsächlich nicht. Ich war verwundert. Sebas und Eric waren oder sind beste Freunde, erzählten die sich denn so gar nichts?
"Nachdem du abgereist warst, hatte ich einen kleinen Unfall und bin seitdem blind."
Ich sprach ihm gegenüber so nüchtern, als würde ich den morgigen Wetterbericht vortragen.

AN: Ich versuche mich momentan an einen strikteren Updateplan zu halten. Mal schauen ob ich das schaffe...
Xo Lena

Night changes everything (Deutsch) *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt