50| »Abschied«

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Die Glocken läuten heute, zu diesem herzzerbrechenden Anlass, besonders sanft und gefühlvoll. Als ich die Nachricht von seinem Tod bekommen habe, hat es mir beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen, doch ich weiß, dass ich stark sein muss – für ihn. Bei dem Gedanken an ihn kommen mir bereits wieder die Tränen und ich fange bereits zu zittern an, als sich eine große warme Hand auf meine Schulter legt und allein durch diese Berührung Kraft in mich fließt. Dankbar drehe ich mich um und sehe ebenfalls Trauer in seinen Augen. Nicht nur wir, nein, unser gesamtes Dorf hat sich versammelt, um ihm die letzte Ehre zu erweisen und ich kann kaum glauben, wie viele ihre Hilfe und Unterstützung in dieser schweren Zeit angeboten haben. Erst jetzt nehme ich meine Umgebung wieder wahr und habe das Gefühl, als würde ich aus einem bösen Traum erwachen, nur um festzustellen, dass dieser die Wirklichkeit ist. Tränen sammeln sich in meinen Augen als ich die Allee entlangschreite, um am vordersten, mit Moos bedeckten, Baumstamm neben meiner Familie Platz zu nehmen. Meine Mum schluchzt herzzerreißend und ich lege meinen Arm um sie, in der Hoffnung, ihr ein wenig Trost zu spenden. Sie hebt langsam ihren Kopf und blickt mich dankbar und zugleich so voller Mitgefühl an, dass ich schlucken muss, um nicht einen Bach voller Tränen aus meinen Augen fließen zu lassen.

Mariah und Pete sowie Luke sind extra von Hawaii hergeflogen, um sich gebührend von ihm zu verabschieden, genauso wie Liko, Sanna und Mea gekommen sind, um für mich da zu sein. Letztere hat seit etlichen Jahren zum ersten Mal wieder ihren Ehemann, Kys Dad, in die Arme schließen können, somit ist nicht nur Trauer, sondern auch Wiedersehensfreude involviert gewesen. Darüber bin ich mehr als froh, denn ich kann mit Abschieden einfach nicht umgehen, zwar wechselt nur der Körper die Ebene, der verstorbene Mensch hingegen lebt in unseren Herzen weiter, dennoch ist das Gefühl des Verlusts einfach zu groß, um dieses ganz alleine tragen zu können. Ich bin dermaßen dankbar, dass all meine lieben Herzensfreunde an diesem traurigen Tag gekommen sind, dadurch wird der Schmerz ein wenig leichter, denn ich weiß, dass ich nicht allein bin und auch nie allein sein werde. Auch wenn man nicht mehr hörbar mit einem geliebten Menschen sprechen kann, so sind dessen Stimme, der Klang und die Vibration für immer in uns und mein Glaube daran stärkt mich so ungemein.

Plötzlich setzt Musik ein, alle verstummen und nun nehmen auch die letzten Platz. Feierlich wird der Sarg über grünes Gras, welches noch von Tautropfen bedeckt ist, zwischen den, als Sitzplatz dienenden, Baumstämmen nach vorne auf die Lichtung getragen. Gras? Baumstämme? Lichtung? Ja, wir befinden uns in einem kleinen Wäldchen und geleiten ihn zur letzten Ruhe. Er hat nie auf einem kalten und tristen Friedhof liegen wollen, deshalb wartet nun ein friedvoller Platz mitten in einem Laubwald, der sich zwischen sanften Hügeln befindet, auf ihn. Ein kleines Bächlein kichert und gluckst einige Meter entfernt vor sich hin, begleitet von dem Gesang der Vögel, die um diese Jahreszeit eigentlich keinen Ton mehr von sich geben, weil es dafür schon viel zu heiß ist. Heute scheinen sie uns jedoch Trost spenden zu wollen, denn etliche Rauchschwalben und andere Vogelarten zwitschern zu der Musik und machen sie auf diese Weise lebendiger.

Der Abschied von ihm zerreißt mir das Herz, die mitfühlenden Worte der anderen rauschen ungehört an mir vorbei und nur eine kalte Leere bleibt in mir zurück. Plötzlich sagt jemand sanft zu mir: „Ais, du bist nun dran. Ich bin für dich da, hörst du? Du schaffst es, ich glaube an dich." Zaghaft nicke ich und stehe langsam mit von Tränen verschleierten Augen auf. Behutsam gehe ich in die Mitte der Lichtung und stehe somit direkt vor dem Sarg. Die letzten Tage haben wir die sogenannte „Wake" gehalten, auch die Fenster des Raumes, in dem wir die Wache gehalten haben, sind während dieser Zeit offen gestanden. Die gesamten Uhren des Hauses sind angehalten und auf den Zeitpunkt seines Todes zurückgestellt worden, genauso wie alle Spiegel aus Respekt vor dem Toten mit Stoffbahnen verdeckt worden sind. Gemeinsam mit dem „Keening", einer Art „Klagechor", haben wir alle irischen Traditionen gewahrt.

Nun steht die letzte Rede, meine Rede, an, bevor der Sarg in die Erde hinuntergelassen wird. Der Gedanke daran, dass der Sarg aus Ulmenholz bald mit der schwarzen Walderde in Berührung kommen wird, schürt zwiespältige Gefühle in mir. Ich atme tief durch und hebe langsam meinen Kopf, mustere all die bekannten Gesichter, in denen sich die Trauer über diesen großen Verlust deutlich abzeichnet. Dann beginne ich mit klarer Stimme einen irischen Segenswunsch zu sprechen, den er immer so gerne gemocht hat.

Vergiss die Träume nicht, wenn die Nacht wieder über dich hereinbricht und die Dunkelheit dich wieder gefangen zu nehmen droht.
Noch ist nicht alles verloren.
Deine Träume und deine Sehnsüchte tragen Bilder der Hoffnung in sich.
Deine Seele weiß, dass in der Tiefe Heilung schlummert und bald in dir ein neuer Tag erwacht.
Ich wünsche dir, dass du die Zeiten der Einsamkeit nicht als versäumtes Leben erfährst, sondern dass du beim Hineinhören in dich selbst noch Unerschlossenes in dir entdeckst.
Ich wünsche dir, dass dich all das Unerfüllte deines Lebens nicht erdrückt, sondern dass du dankbar sein kannst für das, was dir an Schönem gelingt.
Ich wünsche dir, dass all deine Traurigkeit nicht vergeblich ist, sondern, dass du aus der Berührung mit deinen Tiefen auch Freude wieder neu entdecken kannst."

Nachdem ich geendet habe, lasse ich den Segenswunsch ein wenig nachwirken und verspüre währenddessen den Wunsch, noch etwas zu sagen. Deshalb erhebe ich ein wenig später erneut meine Stimme und spreche nur zu ihm: „Du bist mein Held, du bist immer für mich da gewesen, egal ob du Zeit hattest oder nicht. Du warst einfach da und dafür liebe ich dich. Die Sekunden, Minuten, Stunden und Tage ohne dich sind eine Qual, ein großer Schmerz, und doch bleibt die Zeit nicht stehen. Die Uhren ticken wieder, die Fenster sind geschlossen, das Keening und die Wake sind vorüber und du bist in himmlische Sphären eingetaucht. Du wirst mir, du wirst uns, unendlich fehlen, doch wir tragen dich im Herzen und dadurch bist du für immer bei uns. Nach dem Tod folgen Trauer, Erinnerungen und Schmerz, doch die Verbundenheit bleibt für immer bestehen. Ich vermisse dich, Dad. Lebewohl."

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Ich habe beim Schreiben wirklich die eine oder andere Träne vergossen und bin mir sicher, dass ihr zuerst dachtet, dass ihr Kys Beerdigung miterleben müsst, nicht wahr? 👀😢

Die Fragen, die ihr euch stellen solltet, sind folgende: Was ist in der Zwischenzeit passiert? In welcher Jahreszeit findet das oben Geschriebene statt? Hat es einen Zeitprung gegeben?

Ich bin wirklich gespannt, was ihr von diesem Kapitel denkt, wie ihr die Beschreibung einer unkonventionellen Beerdigung, verbunden mit irischen Traditionen, findet... 🥰❤

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