30

36.2K 1.9K 242
                                    


„Sie brach ihr Versprechen. Es war das letzte Mal, dass ich ihre Stimme hörte... der Geburtstag meines Sohnes wurde der Todestag meiner Frau...An die Wochen danach kann ich mich kaum noch erinnern. Es war, als würde ich die Welt um mich herum durch einen dünnen Vorhang sehen. Ich sah und hörte alles, aber entweder ich reagierte gar nicht oder es interessierte mich nicht. Nichts interessierte mich. Weder mein Studium, noch meine Familie und am allerwenigsten mein Sohn."


Mein Herz setzte einen Schlag aus. Am allerwenigsten sein Sohn?

„Ich habe Emin gehasst, seit dem ersten Tag, an dem er auf die Welt gekommen ist. Das Kind, das meine Frau mit dem Leben beschützt hat... Nachdem Leyla gestorben ist, wurde ich rasend vor Wut. Ich konnte und wollte nichts über Leylas Tod hören. Ich sah bei mir die Schuld. So oft habe ich mich gefragt, was ich falsch gemacht habe. So oft habe ich daran gedacht, was wäre wenn... Wenn die Operation eine Woche zuvor durchgeführt worden wäre, so wie der Arzt es eigentlich geplant hatte. Was wäre, wenn Leyla gar nicht schwanger geworden wäre... Was wäre, wenn ich sie gar nicht geheiratet hätte? Würde sie dann noch leben? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mir nicht verzeihen konnte... sie nicht beschützen konnte. Ich hätte etwas machen müssen. Irgendetwas. Vielleicht sie nicht unbedingt zum Abtreiben drängen, aber sie hätte früher entbinden müssen. Mit diesen Wenn-Gedanken habe ich mich selbst schier in den Wahnsinn getrieben. Ich hasste mich selbst dafür, nichts unternommen zu haben und auch wenn ich wusste, dass Emin keine Schuld traf, so hasste ich ihn vielleicht sogar mehr als mich. Er lebte im Tausch gegen Leylas Leben. Weil sie ihn beschützte, ein Kind das noch nicht einmal auf der Welt war... Auch wenn ich wusste, dass dieser Gedanke falsch war, auch wenn ich wusste, dass Leyla unser Kind über alles geliebt hatte... ich suchte einen Sündenbock. Ich suchte jemanden, dem ich die ganze Schuld an Leylas Tod übertragen konnte. Irgendjemanden und sei es ein unschuldiges Kind... Es hat lange gedauert bis ich einigermaßen zu mir kam. Emin wuchs bei meinen Eltern und bei meiner Schwester auf. Erstaunlicherweise hatten meine Eltern nichts gegen Emin. Im Gegenteil. Sie waren irgendwie stolz auf ihn. Ich weiß nicht einmal, ob sie mich je so geliebt haben. Ich habe meine Eltern alles übernehmen lassen. Zwar gehörte das Sorgerecht mir, weil es augenscheinlich so aussah, als gäbe es keine Probleme in der Familie, aber ich war kaum Zuhause. Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um einigermaßen über Leylas Tod hinweg zu kommen. Ein ganzes Jahr, bis die Hochschule mir einen Brief schickte, dass wenn ich mein Studium fortsetzen möchte, dass ich dann im nächsten Semester die Klausuren mitzuschreiben hätte oder ein vorgezogenes Praktikum machen müsste. Ich war noch immer nicht klar bei Verstand. Für mich war die Hochschule so was von egal. Ich dachte nicht einmal daran, bis ich eines Abends Selin kennen lernte... Ich hatte am Mittag geschlafen und wieder plagten mich Alpträume von Leylas Tod. Deswegen musste ich raus und mich auf andere Gedanken bringen und als allererstes nüchtern werden. Ich ging auf den Eingang eines Cafés zu, während von der anderen Seite eine Frau das Café verließ. Ich war wieder bei Leyla mit den Gedanken. Ich übersah Selin und stieß mit ihr zusammen, wodurch ihr ihr Kaffee aus der Hand fiel und ihr Kleid einige Tropfen abbekam. Zuerst fuhr sie mich aufgebracht an und zischte wütend davon. Ein paar Tage später sah ich sie erneut in demselben Café. Ich merkte, dass sie mich beobachtete. Irgendwann kam sie zu mir an den Tisch und schlug mir vor ihr einen neuen Kaffee als Entschädigung auszugeben. Ich hatte keine Einwände. Ärgerlich war es, als sie sich einfach zu mir gesellte, nicht wieder vor hatte zu verschwinden und immer wieder versuchte mit mir zu plaudern. An diesem Abend sprachen wir nicht viel, aber Selin schien mich mit ihren Blicken zu durchbohren. Sie sah sofort, dass ich nicht so leicht zu knacken und erst recht nicht redewillig war. Vielleicht sah sie damals eine Herausforderung in mir, weil ihr die Männer eigentlich zu Füßen lagen. Nur ich nicht. Jedenfalls begegneten wir uns ein paar Tage später wieder und an diesem Tag traute sie mich zu fragen, was los war. Natürlich hatte ich nicht vor einer wildfremden Frau von meinem Leben zu erzählen, sodass ich ihr eine Ausweichantwort gab. Und zwar das mit der Hochschule. Sie glaubte mir nicht und wusste, dass mehr dahinter steckte aber vorerst beließ sie es dabei und fragte mich stattdessen aus, wie denn meine Hochschul-Leistungen wären. Ich verstand nicht wozu sie dies wissen wollte, aber sagte, dass sie recht gut wären. Sie schlug vor, dass sie mir in punkto Praktikum helfen könnte. Sie würde jemanden kennen, bei dem ich mein Praktikum machen könnte, aber dafür müsste ich eine Bewerbung schreiben. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, irgendetwas für die Hochschule zu machen, aber die Zeit verstrich nicht. Ich dachte immer noch ständig an Leyla und so langsam musste ich mich von der finanziellen Unterstützung meiner Großmutter losreißen. Also schrieb ich diese Bewerbung, die nur halbherzig formuliert war und bewarb mich beim media-create. Erstaunlicherweise wurde ich sogar angenommen. Nach meiner Übernahme stellte sich heraus, dass Selins Onkel ein Teilgesellschafter des media-create war... Aber das war mir zu dem Zeitpunkt egal. Ich hatte etwas gefunden, womit ich mein Trauma bewältigen konnte. Ich widmete mich voll und ganz meiner Karriere, während Emin bei meiner Familie groß wurde. Irgendwie kamen Selin und ich uns dann auch näher. Ich berichtete ihr recht schnell, dass ich einen Sohn hatte, einfach um sie mir vom Hals zu halten, aber das störte sie nicht. Irgendwann sagte sie mir sogar, dass sie sich wünsche, dass die Beziehung zwischen mir und meinem Sohn hoffentlich wie eine richtige Vater-Sohn-Beziehung werden würde. Ich war verwundert, dass Selin sich so etwas wünschte. Ich hatte ihr nur erzählt, dass Emins Mutter tot war und sie stellte keine weiteren Fragen mehr dazu. Vielleicht wollte sie mir näher kommen... Zwei Jahre kannte ich sie zu dem Zeitpunkt. Kurz zuvor hatte ich mein Diplom erhalten. Wir waren irgendwie zusammen, aber führten keine gewöhnliche Beziehung. Ich konnte Selins Gefühle nicht erwidern, aber sie wusste das und dennoch wollte sie sich nicht von mir trennen. Nach meinem Abschluss habe ich wieder beim media-create angefangen. Selins Onkel war wohl sehr zufrieden mit meiner Leistung oder Selin selbst hatte ein gutes Wort für mich eingelegt. So genau habe ich da nie nachgefragt. Mein Sohn war inzwischen drei Jahre alt und jedes Mal wenn er mich sah, was zwar eher selten vorkam, fürchtete er sich vor mir und versteckte sich hinter meiner Schwester, die er sehr liebte. Ich begann mir wieder viel zu viele Gedanken über Leyla und Emin und unsere nicht existierende Traumwelt zu machen. Mit diesen Gedanken stürzte ich mich erneut in die Arbeit, machte eigentlich täglich Überstunden und war hinter meiner Karriere her. Selin wollte, dass ich mich mit Emin vertrug, er wäre mein Sohn und sie würde es gut finden, wenn wir beide eine Familie wären. Trotzdem traute ich mich nicht aus heiterem Himmel einfach so zu Emin zu gehen und ihn in meine Arme zu schließen, bis... bis er eines Tages im Kindergarten zu Muttertag geweint haben soll... Emin hatte geweint, weil an diesem Tag die Kinder ein Muttertags-Geschenk bastelten und er als einziges Kind keine Mutter hatte und als man ihn dann fragte was mit seinem Vater wäre, soll er gesagt haben, dass ich ihn hasse. Das hat mir meine Schwester erzählt. Es war... wie ein Faustschlag ins Gesicht. Ich war wirklich getroffen von Emins Worten. Ich wollte sagen, dass das nicht stimmt, aber ich konnte nicht verleugnen, dass ich ihn nicht gerade herzlich behandelt hatte. Ich hatte ihn nicht ein einziges Mal in die Arme genommen. An diesem Abend schlief ich sehr schlecht. Mich suchte ein fürchterlicher Alptraum auf. Ein Traum, in dem mich Leyla hasserfüllt ansah, für das was ich Emin zufügte... Ein länglicher Tisch mit vielen Kindern und Müttern war an diesem Platz und alle bastelten gemeinsam etwas. Ich sah Emin wie er alleine saß und weinte und während ich ihn einfach nur anstarrte und ihm beim Weinen zusah, wurde es um mich herum immer düsterer. Jemand schrie in kurzen Abständen immer wieder Emin, bis sich plötzlich eine Person um ihn bildete. Es war Leyla, die schützend ihre Arme um unseren Sohn schloss, aber er sah das nicht. Er spürte sie nicht. Aber das schlimmste war, Leyla war blutüberströmt und versuchte Emin zu trösten, während ich immer noch keine Anstalten machte auf sie zuzugehen. Emin sah sie aber weiterhin nicht. Leyla begann aus Verzweiflung ebenfalls zu weinen... und plötzlich hob Leyla ihren Kopf, überall an ihr klebte Blut. Sie sah mich hasserfüllt an, für das was ich Emin antat... Dieser Blick geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Es war wie ein Messerstich. Schweißgebadet schreckte ich aus diesem Alptraum und das erste was ich tat, war mitten in der Nacht zu meinen Eltern zu fahren und nach Emin zu sehen. In dieser Nacht habe ich erkannt, was für einen großen Fehler ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Ich habe unser Kind, für das Leyla gestorben war, einfach ignoriert, ihm das Gefühl gegeben, dass ich ihn hassen würde. Ich bin an Leylas Grab und habe sie um Vergebung gebeten. Ich habe viele Fehler gemacht, aber ich war bereit mich zu bessern und Emin ein guter Vater zu werden. Bald darauf nahm ich Emin bei mir auf und suchte eine Aufpasserin für ihn. Er sollte nicht mehr bei meinen Eltern wohnen, er war mein Sohn und gehörte an meine Seite. Ich hatte kaum noch Zeit für andere. Endlich hatte ich wieder einen Lebenssinn. Es dauerte bis Emin sich mir vollkommen öffnete, aber ich war bereit zu warten. Emin sollte es gut gehen und an nichts fehlen, aber ich wollte ihn auch nicht übermäßig verwöhnen. Ich wusste, dass Leyla es nicht anders gewollt hätte. Wir hatten mal darüber gesprochen. Über unsere Zukunft... die es so nicht geben durfte. Jetzt weißt du alles über Leyla und Emin, Ela."

Plötzlich war es LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt