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Wenig später führte Andrej Ingvar in das Zelt.
Erneut waren seine Hände auf dem Rücken gefesselt.
Und obwohl der Mann mehr als nur angespannt wirkte, beugte er vor Aaron das Knie und senkte demütig den Kopf.
„Sieh mich an, Ingvar..." Langsam hob der Vampir den Blick, bis seine Augen die Aarons trafen.
„Ich stelle diese Frage nur ein einziges Mal. Und ich will die Wahrheit von dir hören."
Kühl blickte Aaron auf den Mann hinab.
„Hast du Finya angegriffen?"
„Nein, Hoheit. Ich habe Finya nicht angegriffen." antwortete er ruhig und sah Aaron offen und aufrichtig an. Dennoch merkte man ihm seine Sorge, Aaron könne ihm nicht glauben, deutlich an.
„Nimm ihm die Fesseln ab, Andrej..."
Kaum, dass die Fesseln gelöst waren, nahm Ingvar seine Hände nach vorne, blieb aber ansonsten regungslos knien. „Ich danke Euch Hoheit."
„Steh auf..."
Unsicher kam Ingvar wieder auf die Füße. Wortlos wies Aaron auf den freien Hocker.
„Kennst du den anderen Vampir?"
„Ja, Hoheit. Sein Name ist Leon. Wie genau er zu Fürst Skyldar steht, weiß ich nicht. Er hat ihn auf jeden Fall schon des öfteren besucht und ihn ...unterstützt. Allerdings..." Ingvar verharrte kurz. „...ich wusste nicht, dass er in der Nähe ist. Fürst Skyldar muss ihn erneut zu sich eingeladen haben."
„Was ist geschehen, nachdem ich Finya zu dir geschickt habe?"
„Ich...bin ihr gefolgt, um zu Euch zu gehen, als ich auf einmal für einen kurzen Moment einen Schatten wahrgenommen habe. Leon ist soweit ich weiß ein Nojol.
Noch bevor ich reagieren konnte, lag er über Eurer Sklavin und hielt ihr einen Dolch an die Kehle.
Aber er war für einen kurzen Moment unaufmerksam. Dadurch konnte ich ihn von Finya hinunterstoßen und entwaffnen. Eure Sklavin hat sehr geschickt reagiert, sich weggerollt und nach Euren Wachen gerufen."
Zufrieden nickte Aaron, schmunzelte dann jedoch. „Du hast einen Teil vergessen...Was war, bevor du mit Finya mitgegangen bist?"
Verlegen senkte Ingvar den Blick. „Ich...war mit einigen der Kinder zusammen. Ich habe versucht, ihnen einen Ball zu basteln. Ich dachte, wenn sie etwas spielen können, würden sie ihre Vergangenheit vielleicht schneller...hinter sich lassen können..."
Kurz zögerte er, bevor er Aaron erneut offen ansah.  „Sollte ich damit entgegen Euren Wünschen gehandelt haben, tut es mir Leid, Hoheit. Dennoch würde ich es wieder tun."
Aaron nickte Ingvar freundlich zu. „Ganz im Gegenteil. Auch ich möchte, dass es den Kindern gut gut. Allerdings...Finya hat mir erzählt, dass die Kinder Euch nicht gefürchtet haben...wie kommt das?"
Ingvar lächelte schwach. „Weil sie mich kennen. Ich...habe gerade den jüngsten unter ihnen immer wieder heimlich etwas zu Essen zugesteckt, ohne dass meine Kameraden oder gar Skyldar etwas mitbekommen haben... Und auch sonst...Viele Möglichkeiten hatte ich nicht. Aber da, wo es ging, habe ich versucht, ihnen ihr Los erträglicher zu machen. Es sind doch die Jüngsten, Hoheit..."
Anerkennend neigte Aaron den Kopf. „...du überrascht mich immer wieder..."
Nachdenklich lehnte Aaron sich zurück und musterte seinen Gefangenen ausgiebig.
„Hast du eine Idee, warum ich dich ursprünglich sprechen wollte?"
„Ja, Hoheit...Jarl Kari wird bald ankommen...es...wäre nur naheliegend, wenn ich daher etwas....dummes...machen würde um einer Verurteilung durch den Jarl zu entgehen."
Leise lachte Aaron auf. „Du scheinst wirklich klug zu sein. Aber ja. Ich wollte dich bis zur Ankunft des Jarl unter Arrest stellen. Das Risiko, dass du dich doch wieder auf deinen Eid Skyldar gegenüber berufst, ist mir zu groß."
„Ich werde mich freiwillig in den Arrest begeben und mich auch dem Urteil des Jarl stellen, Hoheit."
Respektvoll verneigte Ingvar sich und wirkte zum ersten Mal an diesem Tag nicht angespannt.
Prüfend blickte Aaron weiterhin zu Ingvar und strich sich über das Kinn.
„Dass die Kinder dich nicht fürchten, sondern sogar zu mögen scheinen, haben wir bereits geklärt. Wie sieht es mit den Erwachsenen Sklaven aus?"
Für einen kurzen Moment runzelte Ingvar die Stirn.
„Sie fürchten mich zum Teil, wenn auch nicht so sehr, wie die anderen Vampire, denke ich. Sie scheinen zumindest zu wissen, dass ihre Kinder mich mögen und ich....netter als die anderen Vampire...zu ihnen bin. Aber sie trauen keinem Vampir, und das kann ich ihnen nicht verübeln."
„...würden sie sich von dir helfen lassen?"
Erneut schien Ingvar zu überlegen. „Ich denke schon, Hoheit. Nicht alle, aber ein Großteil wohl schon."
Zufrieden nickte Aaron. „Finya...hol mir..." er brach ab und brummte unzufrieden.
„Sag Ivar, dass er mir Arvid schicken soll."
Finya unterdrückte ein Schmunzeln, trat an den Zelteingang und wechselte einige Worte mit Ivar.
Erst, als sie zurück an die Seite ihres Herren trat, richtete dieser erneut das Wort an Ingvar.
„Du hast heute gezeigt, dass es dir mit deinem Wort ernst zu sein scheint. Und auch damit, dass du dich nicht mehr an den Eid gebunden siehst. Dennoch stelle ich dich bis zur Ankunft des Jarl unter Arrest. Die Sicherheit hier im Lager ist mir einfach zu wichtig.
Ich stelle dich unter Arvids Aufsicht. Du wirst ihm im ,Lazarettzelt' zur Hand gehen und dich an seine Anweisungen halten. Das Zelt wirst du nur auf seine Anweisung hin verlassen. Oder auf die Anweisung eines Gardemitglieds hin."
Überrascht hob Ingvar die Augenbrauen.
„Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet, Hoheit. Ich danke Euch."
Aarons Augen blitzten amüsiert auf. „Womit hattest du denn gerechnet?"
Verlegen zuckte Ingvar die Schultern. „Ich weiß dass Ihr mir nicht vertraut...dass ihr mir nicht vertrauen könnt in der aktuellen Situation. Im Besten Fall hatte ich erwartet, dass ich die nächsten Tage gefesselt verbringe. Im schlechtesten Fall, dass ihr mir erneut...Wein...anbietet. Ihr sagtet ja, dass Ihr nur vorerst...."
Aaron schmunzelte, wurde dann aber wieder ernst. „Das erste hatte ich in der Tat in Erwägung gezogen, doch dein Verhalten heute hält mich davon ab. Das zweite...nun, das erachte ich ehrlich gesagt als etwas...überdimensioniert. Du machst nicht den Eindruck, als ob du vorhast, nicht weiterhin zu kooperieren."
Sofort richtete sich Ingvar auf. „Ich gab Euch mein Wort, Hoheit. Und ich stehe zu meinem Wort..."
„Dessen bin ich mir sicher. Sonst würde dieses Gespräch nicht so ablaufen."
Er nickte einer Person hinter Ingvar zu. „Arvid...ich unterstelle Ingvar deiner Aufsicht bis der Jarl eintrifft. Er wird dir bei deinen Patienten zur Hand gehen, jedoch nicht ohne Erlaubnis das Zelt verlassen."
Arvid - denn er war es, der hinter Ingvar stand - verneigte sich und trat neben den anderen Vampir. „Die Hilfe kann ich gut gebrauchen, Hoheit. Langsam, wenn auch sehr zögerlich, trauen sich die ersten Sklaven doch mit kleineren und größeren Blessuren zu mir."
„Gut. Dann geh jetzt mit Arvid mit, Ingvar."

Finya 4Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt