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A U R O R A

„Du musst dir jetzt endlich was Neues suchen", meckerte meine Mutter als ich erst am Nachmittag aus meinem Zimmer gekrochen kam. Sie machte mir einen Kaffee und redete immer weiter auf mich ein. Dabei brummte mir einfach nur der Schädel.
„Oder willst du nicht doch studieren? Studieren nicht auch deine Freunde?"
„Ja, sie studieren. Aber ich glaube nicht, dass das das Richtige für mich ist", gab ich etwas genervt zurück.
„Und wenn du genau das studierst, was dir Spaß macht? Mit einem höheren Abschluss könntest du eine ganze Kette von Cafés besitzen."
„Jetzt lass sie doch mal. Unsere Tochter wird schon etwas finden, mach ihr nicht so einen Druck. Es sind gerade mal ein paar Tage vergangen", grummelte mein Dad, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen.
„Macht euch um mich keine Sorgen, bis zum Ende der nächsten Woche habe ich etwas gefunden", beendete ich diese Unterhaltung, stand auf und nahm meinen Kaffee mit auf mein Zimmer. Die nächsten Stunden verbrachte ich im Jobportal und versuchte etwas Passendes für mich zu finden.

F I N N

Wieder hakte seine Faust in meinem Kinn ein, schon das dritte Mal, und ich fiel zu Boden. Mio beugte sich über mich.
„Verdammt, Wincheser! Du musst dich konzentrieren."
Ich rappelte mich auf und stieß mich in seine Richtung ab. Meine Schwingen breiteten sich aus und ich zerrte ihn hoch in die Luft. Wir wirbelten durch die Trainingshalle.
Ich stieß ihn nun mehrmals in den Bauch, erwischte immer mal sein Gesicht und gewann die Oberhand.
Nach dem kurzen Schock ließ auch Mio seine schimmernden Flügel sehen und wich meinem nächsten Hieb gekonnt aus.
„Nicht schlecht!"
„So einfach besiegst du mich nicht!", rief ich zurück, da wir in einiger Entfernung gegenüber in der Luft flogen und uns ansahen, als wären wir Feinde. Wir wussten beide, wie gut der jeweils andere im Kampf war und wir nahmen uns beide nichts.
Wieder stürzten wir aufeinander, wichen unseren Schlägen und Hieben aus und spürten allmählich die Erschöpfung in unsere Gliedern.
Doch, trotz allem hörte ich während des Trainings in mich hinein, lauschte auf den Rhythmus von Aurora's Herz. Ich ließ ihre Gefühle auf mich ein, spürte, dass es ihr gut ging.
Und schon landete ich auf dem harten Hallenboden und rollte einige Meter, sodass mir die Luft weg blieb.
„Ist dir das Mädchen etwa in den Kopf gestiegen?", fragte Sophie, als sie grinsend die Halle betrat und mit verschränkten Armen vor mir stehen blieb, „Cullen wäre nicht zufrieden."
Ich seufzte und nahm dann ihre Hand dankend entgegen und stand wieder auf den Beinen. Mio landete neben und und ließ seine Flügel wieder verschwinden.
„Vielleicht sollte ich eher deinen Job übernehmen und die kleine Aurora beschützen", lachte er spöttisch und ging.
„Das ist Training Finn, aber dort draußen hast du es mit etwas sehr Großem zu tun. Also nimm' deine Gedanken zusammen. Fehler darfst du dir da draußen auf keinen Fall leisten." Sophie sah mich mit einem strengen Blick an.
„Ich weiß", seufzte ich, „Das ist alles noch ziemlich neu für mich. Ich fühle alles, was sie fühlt. Ich spüre ihr Herz neben meinem. Ich weiß zu jeder Sekunde, wie es ihr geht. Ich will nichts verpassen, denn wenn das passiert, ist es vielleicht zu spät und ich verliere sie."
„Du musst lernen, dich auf beides zu konzentrieren." Sophie klopfte mir auf die Schulter und ging ebenfalls.
Danach lief ich den Flur entlang und endete schließlich, am Ende des langen Korridors, in meinem Zimmer, in dem ich schon sehr lange wohnte. Ich stieg unter die Dusche und dachte über Sophie's Worte nach. Sie hatte Recht, ich durfte mich nicht ständig auf die neuen Gefühle in mir konzentrieren. Meine Aufmerksamkeit wurde dadurch geschwächt und wenn ich nicht auf mich selber achten konnte, wie sollte ich dann jemals Aurora beschützen können?

***

Ich suchte in dem riesigen Speisesaal meine Freunde. Viele Tische standen in geordneten Reihen auf dem gefliesten Boden. Die ältesten Schutzengel saßen in der hintersten Ecke des Raumes zusammen. Sie hatten bereits keine Schützlinge mehr, ihre Zeit war vorbei. Darauf folgten die erwachsenen Engel, welche die größte Anzahl in dieser Organisation einnahmen.
Und dann gab es noch uns, die Juniors, bei denen ich der Einzige war, der bereits einen Schützling hatte. Die Ausbildungsleiter, unter anderem Elijah Cullen, saßen an einem langen Tisch in der Mitte des Raumes unter dem magisch verzierten Kronleuchter, der den ganzen Saal bis in die kleinsten Ecken erleuchtete.
Aus der Masse sah ich nun Saskias Hand, die mich zu ihr und den anderen winkte, und ich schlängelte mich an den vielen Tischen vorbei.
„Du kommst ganz schön spät", meinte Ming und schlürfte die Spaghetti in ihren Mund.
„Habe noch geduscht."
„Nachdem ich ihn fertig gemacht habe, hat er unter der Dusche geweint"; lachte Mio.
„Das nächste Mal schlägst du mich nicht so leicht", zwinkerte ich ihm zu und fing an mein Fleisch zu schneiden.
„Übrigens habe ich ein bisschen recherchiert", flüsterte mir Sophie zu, als die anderen eigene Gespräche weiterführten, „Der Brand, in dem Café, in dem Aurora fast gestorben wäre, war kein Zufall."
Mir blieb fast der Bissen im Hals stecken, als ich ihre Worte hörte.
„Das war Brandstiftung. Die Polizei tappt im Dunkeln niemand weiß, wer das war."
„Vielleicht war es derselbe Mann, der Aurora im Krankenhaus etwas antun wollte. Das konnte kein Zufall sein."
„Ich denke, du solltest auf dein Schützling besonders aufpassen. Irgendetwas kann da nicht richtig sein."
Das bereitete mir ein unsicheres Gefühl im Magen und ließ einen kalten Schauder über meinen Rücken laufen, der mir Gänsehaut bereitete. Dann hörte ich wieder in mich hinein. Ihr Herz schlug in einem ruhigen gleichmäßigem Takt und ich konnte keine Aufregung in ihr spüren. Trotzdem sollte ich öfter ein Auge auf sie werfen und bei ihr sein, auch wenn keine Gefahr direkt drohte. Ich durfte nichts übersehen.
Also flog ich nach dem Abendessen zu ihr und sah sie von Weitem in ihrem Zimmer sitzen. Sie tippte auf ihrem Computer herum und keine Gefahr war in Sicht. Die Nacht wanderte still vor sich hin.
Doch ich konnte spüren, dass etwas Großes bevorstand. Als würde ein tobender Sturm auf uns zu rasen, von dem Aurora und auch ich noch nichts ahnten. Aber er war da und türmte seine riesigen Wolken.
Und dann musste ich an meinen Vater denken. Er war ein guter Schutzengel gewesen und hätte diese Situation mit Stärke behandelt. Ich wollte sein wie er, alles voraussehen und keinen einzigen Fehler machen. Ein guter Schutzengel sein.
In seinem Leben hatte er einen Schützling sehr lange beschützen können, bis ihn der Krebs den Schützling zerfraß. Ein Schutzengel hatte zwar große Macht, aber jegliche Art von Krankheiten waren manchmal stärker als die Fähigkeiten eines Engels. Aber mein Vater hatte diesen Mann aus einem einstürzendem Haus gerettet, ihn daran gehindert von einem Auto überfahren zu werden und noch vieles mehr. Und trotzdem wurde der Mann nur 45 Jahre alt, aber mein Vater hatte ihn schon im Kindesalter beschützt und hatte ihn so weit bringen können.
Doch dann, als er seinen nächsten Schützling bekommen hatte, gab es diese eine Nacht, in der mein Vater versagt hatte. Das Auto des Mannes stürzte von einer Brücke in einen tobenden Fluss. Mein Vater war da, konnte ihn aber nicht mehr retten. In dieser Nacht war er zu spät und das hat ihn bis an sein Lebensende verfolgt.
Für einen Schutzengel ist es eine Aufgabe fürs Leben, seinen zugewiesenen Menschen zu beschützen. Doch wenn ein Engel versagte, war es, als würde man ihm selbst das Herz aus der Brust reißen. Ewiges Leid schien der eigene Schatten zu werden und Schuldgefühle schienen einen auf Schritt und Tritt zu verfolgen.
Ich musste mit ansehen, wie mein Vater am Boden zerstört war. Sein Mut und sein Stolz versteckte er unter seinem gesenkten Haupt.
Und dann bekam er nach einem Jahr wieder einen Auftrag und starb für seinen Schützling. Er opferte sich und warf sich in die Schusslinie einer Pistole. Die Kugel wäre direkt in den Brustkorb der Frau eingedrungen und hätte ihn von innen zerfetzt, aber die Kugel landete stattdessen in dem meines Vaters.
Seine schnelle Heilung konnte nichts gegen die Patrone machen, die viel zu lange im Körper verweilte.
Mein Vater starb und gab sein Leben für das eines Menschen.
Erst jetzt konnte ich verstehen, welche Gefühle man hat, wenn die Verbindung zwischen einem Engel und einem Menschen bestand.
Nun hatte ich nur ein Ziel.
Aurora sollte es gut gehen und ich würde sterben, damit sie leben konnte.
All diese Gedanken konnte ich vor meiner Zeremonie nicht nachvollziehen, aber seitdem ich von ihrem Blut getrunken habe, war aus mir jemand anderes geworden.
Ein echter Schutzengel.

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