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A U R O R A

Engel.
Ein Wort, dass einem das Gute ins Gedächtnis rief. Wesen, mit denen alles gut zu werden schien. Wesen, die einfach alles in Ordnung bringen konnten.
Engel waren die guten Boten auf deiner Schulter. Die, die einfach immer die richtige Antwort hatten. Es waren Wegweiser, die immer den richtigen Weg pflegten, auf die man hören sollte.
Sie waren Beschützer und waren heilig. Ihre Art war rein, niemand konnte über sie behaupten, dass sie je Sünde getan haben. Ihre Seele sollte ein Vorbild sein für alle Menschen auf der ganzen Welt.
Doch es waren Geschichten. Geschichten, die man kleinen Kindern erzählte. Zumindest wurden so meine Vorstellungen von diesen Geschöpfen geschaffen.
Meine Hände zitterten, mir war plötzlich unglaublich kalt. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich wusste nicht mehr, was Realität war und, was nicht. Ich wusste gar nichts mehr.
War ich jetzt tot oder passierte das hier gerade wirklich?
Finn kam zu Boden, doch alles, was mich interessierte, waren seine silbernen Schwingen, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatten.
Er kam auf mich zu und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nicht so richtig deuten konnte.
Und plötzlich waren sie weg. Seine Flügel zogen sich ein und waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt wusste ich erst recht nicht mehr, ob ich verrückt war oder nicht.
„W-was...", stotterte ich und ging ein paar Schritte von ihm weg, als er versuchte, vorsichtig auf mich zuzugehen.
„Bitte, lass uns von hier verschwinden", bettelte er und er wurde auf einmal unglaublich nervös.
„Nein", schrie ich fast und ein Knoten bildete sich in meiner Kehle, „Was war das?"
Seine Augen beobachteten mich und in ihnen lag ein Anflug von Schuld und Schmerz.
Finn sagte nichts, sondern schluckte nur.
Und dann kam es über meine Lippen: „Was bist du?", hauchte ich ihm entgegen und war mir sicher, dass er diese Frage genau verstanden hatte.
Seine Kiefermuskeln malten und er wich meinem Blick jetzt aus.
Ich war eine Mischung aus Verwirrung, Traurigkeit und Wut, die auf ihn prallte. Ich fühlte mich stark und auch wieder nicht. Die Welt, die ich vorher kannte, war mit einem Mal etwas anderes und ich wusste noch nicht, was oder wer alles dazu gehörte.
„Das ist kompliziert. Wir müssen erst mal hier weg." Finn kam auf mich zu und versuchte nach meiner Hand zu greifen, die ich ihm aber entzog. Wusste ich überhaupt, wer der Mann vor mir war?
„Nein, Finn!", rief ich aus und er zuckte zusammen, als hätte ich ihm einen Dolch ins Herz gestochen, „WAS bist du?!"
Ich sagte die Worte ihm so laut entgegen, dass er die Lippen aufeinander presste und die Augen schloss, als hätte er mit etwas zu kämpfen, das tief in ihm drin saß.
„Wenn ich dir das sage, wird alles anders werden", flüsterte er.
„Ich habe dich gesehen, was auch immer das war. Es ist schon alles anders."
Er raufte sich durch die dunklen Haare und sog scharf die Luft ein.
„So hätte der Abend nicht enden sollen", seufzte er schmerzhaft.
„Ich habe mir das nicht eingebildet!", hakte ich weiter nach und meine Stimme verlor an Halt.
Jetzt sah er mich an und in seinem Bernstein spiegelte sich der Mond.
„Ich bin...", stotterte er und hatte zu kämpfen weiterzureden, während ich ungeduldig auf seine Antwort wartete, „Ich bin dein Schutzengel."
Er sagte es, als würde ein riesiger Stein von seinem Herzen und seiner Seele in eine unendliche Tiefe fallen. Als hätte es ihn sein Leben lang belastet und jetzt war er es endlich losgeworden.
Seine Worte peitschten mir ins Gesicht und schlugen auf meinen Körper ein, sodass meine Knie ganz weich wurden.
Mir wurde schwindlig.
Ich spürte, dass meine Tränen ein zweites Mal ausbrachen und heiß in meinem Gesicht glühten.
Ich versuchte etwas zu sagen, aber meine Stimme wollte nicht über meine Lippen kommen.
„Bitte Aurora, lass mich dir das alles erklären, aber erst bringe ich dich hier weg", flehte Finn mich jetzt an und griff nach meiner Hand. Vor nicht allzu vielen Minuten, hätte ich seine Hand genommen und mich von ihm führen lassen, aber jetzt entzog ich sie ihm und wehrte seine Nähe ab, die ich sonst immer so gebraucht hatte.
„Du bist was?", flüsterte ich kaum hörbar.
„Ich erkläre es dir. Ich erzähle dir alles, was du wissen musst, aber lass mich dich in Sicherheit bringen."
Ich sah ihn an und ließ seine Worte auf mich wirken. Plötzlich bildete sich das Loch in meiner Brust wieder und der Boden unter mir schien zu wanken.
„Ist das das Einzige, was du machst?", schluchzte ich, „Hast du mich deswegen kennenlernen wollen? War das alles eine Lüge?"
„Nein!", wieder raufte er sich die Haare und seine Augen wurden vor Angst ganz groß, doch ich wusste ehrlich gesagt nicht mehr, was ich ihm glauben sollte.
„Aurora, ich dürfte dir eigentlich gar nicht so nah sein, wie ich es zugelassen habe! Ich soll dich beschützen, nicht mich in dich verlieben! Doch das habe ich getan!... Aurora, ich habe mich in dich verliebt."
„So kannst du mich doch einfach nur besser beschützen, habe ich Recht?", weinte ich jetzt, weil ich nicht mal den Sinn meiner Worte verstand.
Schutzengel.
So etwas gab es nicht, es waren einfach nur Geschichten.
„Ich habe dich versucht von mir fern zu halten, da diese Verbindung zwischen uns, mir strengstens verboten ist, aber ich habe es nicht geschafft."
Und plötzlich kam mir eine Erkenntnis, die mich zutiefst erschütterte. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Schon wieder.
Das Feuer sammelte sich in meinen Erinnerungen, der Rauch kratzte verführerisch wieder in meiner Lunge, als wäre es echt.
„Ich habe überlebt", sagte ich und hatte keine Ahnung, ob ich das jetzt laut gesagt hatte oder nicht, „Ich habe den Brand im Café überlebt, obwohl ich eigentlich so gut, wie tot gewesen war."
Es klang unlogisch, aber jetzt wusste ich vielleicht, warum ich noch hier stand. Ich sah Finn an, hinter einem Schleier meiner Tränen. Eine Welt schien um mich herum zusammenzubrechen. Schon wieder.
„Warst du das?"
Auch in Finn's Augen bildete sich ein nasser Schimmer und er leckte sich über die Lippen.
„Ja", flüsterte er.
Mein Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich sollte ihm dankbar sein, sollte mich um seinen Hals werfen. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich das jetzt nicht.
„Ich habe mit dir darüber gesprochen und du hast unschuldig getan", schrie ich fast, „Du hast das alles gewusst!"
Das war das Schlimmste daran. Er hatte mich gerettet und mich im Dunkeln tappen lassen. Niemand hatte eine Ahnung, wie ich es raus geschafft hatte, nur er. Die ganze Zeit.
Vielleicht hatte ich gar nicht das Recht, jetzt sauer auf ihn zu sein. Aber irgendetwas in mir fühlte sich betrogen von ihm.
„Ich wäre im Fluss ertrunken", kam es, wie automatisch über meine Lippen.
„Wir wären beide ertrunken, wäre ich ein normaler Mensch...ja", seine Stimme zitterte.
Ich hatte Abstand zwischen uns geschaffen, genug Abstand zwischen dem, was auch immer er war.
„Wie kann das sein?"
„Ich erkläre es dir. Ich erkläre dir wirklich alles."
Doch meine Füße handelten, als wären sie nicht meine und ich suchte die Flucht. Die Flucht vor dieser Welt, in die ich hinein geraten war. Ich wollte nach Hause, zu meiner Familie, zu meinen Freunden – zu denen, die normal waren.
Ich schnappte mir meine Tasche und mein Handy, rannte weg von Finn und in den Wald hinein.
Keine Ahnung, wie weit ich schon von der Klippe entfernt war oder von ihm. Jedenfalls hörte ich nicht auf zu rennen, bis meine Lunge brannte.
Meine Gedanken wirbelten durcheinander, wie ein Sturm, der alles kaputt machen wollte. Wie ein Feuer, das alles, was ich bisher kannte, niederbrennen wollte. Wie eine Flut, die das Neue brachte.
Ich konnte einfach nicht glauben, was ich gesehen und gehört hatte. Der einzige Mensch, der mir so nah stand, wie noch kein anderer, der einzige Mann, den ich so sehr in mein Herz gelassen hatte – dieser Mann war mein verdammter Schutzengel?
„Aurora, bleib stehen", hörte ich seine Stimme, doch ich konnte nicht genau ordnen, woher sie kam, bis ich gegen eine harte Brust lief und starke Arme mich umschlangen.
„Erinnere dich, wie sehr ich deine Nähe brauche", flüsterte Finn mir auf den Scheitel.
Ich wollte mich wehren, aber meine Kraft war am Ende, sodass ich ihm schlussendlich doch gewährte.

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