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A U R O R A

„Ich brauche kurz Zeit für mich", seufzte ich und stand auf.
Ich verließ die Lichtung und ging in den dunklen Wald hinein. Die Ruhe, die mich mit der Zeit umgab, ließ mich endlich frei atmen. Ich verlor meine Gedanken. All die Gedanken, die sich an mir festbissen und mich zu Boden drückten, mir die Luft nahmen.
Die Dunkelheit um mich herum, gab mir Entspannung und ich musste an nichts denken.
Ich vergaß die letzten Tage, ich vergaß all das, was passiert war.
Nur für einen kleinen Moment stand die Welt still.
Geäst knackte unter mir, leichter Wind lies die Blätter flüstern.
Irgendwann war ich so weit gelaufen, dass ich nicht mal mehr das flimmernde Lagerfeuer sah.
Eine frische Brise strich mir ins Gesicht und fuhr mir durch die Haare. Das Alleinsein tat gut. Ich konnte völlig abschalten.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und füllte meine Lungen mit frischer Luft. Ich schloss meine Augen und blieb für einen Moment mitten im Wald stehen.
Es fühlte sich für kurze Zeit so an, als wäre alles gut. Als wäre diese verkorkste, neue Welt ganz normal.
Nur für einen kurzen Augenblick.
Doch dann setzte mit einem Knacken im Unterholz die Realität wieder ein. Ich fuhr zusammen und realisierte schnell, dass ich nun nicht mehr allein war.
Ich zuckte in die Richtung, aus der das verräterische Geräusch kam. Doch meine Augen, die sich an die Dunkelheit bereits gewöhnt hatten, fanden nichts.
Doch dann bewegte sich ein Schatten hinter einem Baum hervor und es war eindeutig ein Mensch.
Ein Schauder lief mir über den Rücken und ich bekam eine grausame Gänsehaut.
Ich hatte schon viele Krimis gesehen und nicht viele davon gingen in solchen Situationen gut aus.
Ich wich ein paar Schritte zurück und achtete darauf, dass ich nicht über Gestrüpp stolperte, was aber gar nicht so einfach war.
„Hallo, wer bist du?", fragte ich verzweifelt und mein schneller Herzschlag machte mir das Atmen schwer. Mir wurde ganz heiß und meine Stimme zitterte.
Das erste Mal hoffte ich, dass Finn meine Gefühle wahrnahm und gleich hier sein würde, um mich zu beschützen.
Er hatte es bis jetzt immer getan. Er war immer da gewesen. Er hatte mich aus dem Feuer geholt und aus dem Wasser. Er müsste jeden Moment hier sein.
Die dunkle Gestalt kam nun auf mich zu und ich konnte aber noch kein Gesicht erkennen.
Wo blieb Finn denn? Ich bekam immer mehr Angst. Warum war er jetzt nicht hier?
„Aurora, geht es dir gut?", fragte nun der Mann vor mir und ich erkannte nun im sachten Mondschein seine Gesichtszüge.
Sean.
„Sean, was machst du hier?", fragte ich mit zitternder Stimme, wobei ich hoffte, dass er das nicht bemerkte.
„Du bist alleine in den Wald gegangen und ich wollte sichergehen, dass du auch wieder zurückfindest", antwortete er.
„Weiß Cece, wo du bist? Du solltest lieber wieder zurückgehen. Du weißt sicherlich, wie sie sein kann."
Ich wich noch einen Schritt zurück, als er noch näher kam. Was wollte er denn von mir?
„Cece ist beschäftigt. Außerdem war sie nur ein Vorwand, um näher an dich heranzukommen."
Mich schauderte es erneut bei seinen Worten und mir wurde schlecht.
„Hör auf damit. Ich will nichts von dir, du widerlicher Typ", warf ich ihm entgegen.
Mir wurde schrecklich bewusst, dass ich hier mit ihm allein stand, mitten im Wald, meterweit von der Lichtung entfernt. Sie würden wahrscheinlich nicht mal meinen Schrei hören, weil die Musik so laut war.
Wo war bloß Finn? Er musste meine Angst doch spüren.
„Oh nein, so meinte ich das nicht, Kleine", lachte er und ich verstand gar nichts mehr, „Sicherlich hast du den Name Luzifer schon mal gehört?"
Mein Blut gefror in den Adern.
„Nein, nicht schon wieder. Was wollt ihr verdammt nochmal von mir?", schrie ich fast und das Blut pochte in meinen Ohren.
„Du bringst uns zurück", sagte er fröhlich und kam einen weiteren Schritt auf mich zu.
Ich schüttelte den Kopf, da ich keine Ahnung hatte, was er damit meinte.
„Finn!", schrie ich, da es mir als der einzig mögliche Ausweg erschien.
Doch es half nicht. Mein Schutzengel kam nicht.
„Du brauchst nicht nach deinem geliebten Engel rufen. Er wir nicht kommen", hauchte Sean mir entgegen und war jetzt so nah, dass er mir durch mein Haar strich. Ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht und mir schossen die Tränen in die Augen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mir helfen sollte.
„Bitte, lass mich in Ruhe", flehte ich und es klang jämmerlich.
„Oh nein, ganz ruhig. Ich werde dir nichts tun. Ich bin bloß der Bote. Ich werde dich zu Luzifer bringen und dann werden wir sehen, was der so mit dir vorhat."
„Was hast du mit Finn gemacht?", fragte ich besorgt und wollte mir gar nichts darunter vorstellen. Irgendetwas musste passiert sein, denn er war schließlich nicht hier bei mir.
„Keine Ahnung, was meine Freunde mit ihm gemacht haben, aber wie man sieht, waren
sie wohl erfolgreich."
Mir wurde immer mehr Angst und ich bekam Wut. Sie hatten Finn etwas angetan und es musste etwas Schlimmes gewesen sein. Ich hatte ihn schon kämpfen gesehen. Er war stark und schnell, nichts hatte ihn besiegen können.
„Du kommst mit mir", knurrte Sean und packte mich grob am Arm. Dann fing er an, mich durch den Wald zu zerren.
Ich wehrte und stemmte mich entgegen seiner Richtung, doch er war verdammt stark. Ich wusste von Anfang an, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Diese Art, wie er mich immer angestarrt hatte, war so verräterisch.
Und nun hatte sich herausgestellt, dass er wahrscheinlich auch zu all den anderen Männern gehörte.
Ich zog mit aller Macht und plötzlich löste sich mein Arm aus seinem Griff. Ich floh in die andere Richtung, in Richtung des Lagerfeuers.
Ich sprintete, so schnell ich konnte und blieb zum Glück nicht irgendwo hängen, obwohl es ziemlich dunkel war.
„Hilfe!!!!", kam es von alleine über meine Lippen. Ich atmete schnell und hörte die schweren Stiefel hinter mir auf den Erdboden trampeln.
Ich war schnell, aber leider nicht schnell genug, denn seine Hände bekamen meine Jacke zu fassen und er hing sich mit seinem schweren Gewicht an mich, sodass wir zu Boden gingen.
Ich versuchte weiter zu kriechen, aber er hielt mich fest, sodass ich kaum vom Fleck kam.
Ich schrie um Hilfe, doch niemand schien mich zu hören. Mein Schutzengel war weit und breit nicht zu sehen.
Ich war verloren. Nun hatte es Luzifer geschafft mich zu fangen, was auch immer er mit mir vorhatte.
„Verdammt, mach es nicht so kompliziert, kleine Gottesschlampe!", sagte er laut und zog mich an meinen Haaren schmerzlich auf die Füße.
Mein Schrei durchzuckte den Wald.
Wie hatte er mich gerade genannt? Doch ich hatte keine Zeit weiter nachzudenken, denn Sean schlug mich ins Gesicht, sodass meine Unterlippe aufplatzte.
Der eisenhaltige Geschmack von Blut legte sich wie ein Teppich auf meine Zunge.
Dann nahm er meine beiden Handgelenke und warf mich erneut auf den Boden.
„Wehre dich nicht noch einmal", seine Stimme wurde immer bösartiger und er beugte sich über mich, sein Ausdruck war wie der eines wilden Tieres.
Ich trat nach ihm und versuchte von ihm weg zu kriechen. Meine Unterlippe pochte.
Ehe ich mich versah hielt er mir ein weißes Tuch vor die Nase und den Mund. Der starke Geruch kletterte in meiner Nase und biss mir im Rachen.
Kurz darauf vernebelten sich meine Sinne und mein Körper wurde ganz schwer.
Ich konnte meine Augen nicht mehr offen halten und es dauerte nicht lange, dann fühlte ich nichts mehr und der Wald um mich herum wurde noch dunkler.
Sean's grinsendes Gesicht verschwand im schwarzen Nebel.

SCHUTZENGELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt