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A U R O R A

~ Seine bernsteinfarbenen Augen musterten mich auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Sie sahen in mich hinein und schienen meine Seele zu lesen und in sich aufzunehmen. Um uns prasselte der Regen auf den Asphalt und auf unsere Körper.
Ich konnte seinem Blick nicht ausweichen, ich war wie gefesselt. Wir standen nah voreinander und er sah von weiter oben auf mich herab.
Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, so wie es das immer tat, sobald er in meiner Nähe war.
Der Himmel war grau und stickig, als würde er uns erdrücken wollen. Die Regentropfen perlten von seinem Haar und wanderten seine weiche Haut herab. Ich ertappte mich dabei, wie ich einem Tropfen zusah, bis er an seinem kantigen Kinn verloren ging und zu Boden fiel.
„Finn, was verschweigst du mir?!", hörte ich meine Stimme über den lauten Regen hinweg. Seine Augen blieben immer noch starr auf mich gerichtet und er machte keine Anstalten, dass er mich gehört hatte. Ich blinzelte gegen das peitschende Wasser, dass immer stärker zu werden schien.
„Finn!"
Doch dann sah ich an ihm vorbei, weil eine Bewegung meine Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Sie huschte ein paar Mal hin und her, sodass ich nicht erkennen konnte wer oder was es war, bis sie genau hinter Finn zum Stehen kam und mich mit wilden funkelten Augen durchbohrte.
„Hallo, Aurora...", krächzte der Dunkle und breitete seine Schwingen aus, die einen eisig kalten Schauer zu mir trieben. Sie waren riesig und ragten weit über unsere Köpfe hinaus. Sie waren rabenschwarz und zogen dunklen Nebel in ihren Bewegungen mit sich.
Ich wich einen Schritt zurück und Finn bewegte sich immer noch nicht, so als wüsste er genau, was da hinter ihm stand. Als würde er ihn kennen und das machte mir Angst. Meine Unterlippe bebte und ich versteckte meine kalten Hände in meinem Sweatshirt, als könnte ich mich so vor allem um mich herum schützen.
„Es tut mir leid, Aurora", flüsterte Finn jetzt auf einmal und seine leise Stimme übertönte den Regen trotzdem problemlos.
Ich tritt weitere Schritte zurück und stolperte fast über den Bordstein. Dabei musterten mich Finn's Augen immer noch, aber diesmal nicht starr, sondern voller Leid und Schmerz. Als wäre er gefangen und könnte nicht ausbrechen. Von wo auch immer. ~

F I N N

Ich wachte ruckartig auf, hatte noch genau die dunkle Gestalt vor mir, wie sie ihre großen Schwingen bedrohlich ausbreitete. Ich sah sofort auf Aurora neben mir, die aber durch meinen Schreck nicht mit aufgewacht war. Sie hatte sich die Decke fest um ihren Körper geschlungen, als wollte sie sich vor irgendetwas verstecken. Ich konnte es nur zu gut verstehen, wenn ich an ihren Traum dachte, der in meinem Kopf schwirrte.
Doch ihre Gedanken machten mir Angst und sie gingen in eine Richtung, die nicht gut für mich war und auch nicht für sie.
Ich schlich mich langsam aus ihrem Bett und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem auch schon ihr Laptop zu finden war. Wo hatte sie das aufgeschnappt?
Als ich den Bildschirm aufklappte, war kein Passwort gefordert. Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht heruntergefahren. Ihre letzte Internetseite war noch offen und die Überschrift gefiel mir gar nicht. Sie informierte mich über Luzifer, den gefallenen Engel.
Gruslige Bilder sprangen mir entgegen, als ich weiter nach unten scrollte.
Ja, ich kannte die Geschichte, das war das erste, was ich im Institut gelernt hatte. Dieser Krieg war ein bitterer und brutaler Krieg für alle Engel im Himmel gewesen.
Viel Schmerz und Leid und auch Verluste waren damit verbunden. Aber das war so viele Jahre her und nie hatte jemand Luzifer wieder gesehen. Für mich war es immer nur eine Geschichte.
Doch dann sah ich die dämonenhaften Augen vor mir und mit welcher Kraft der Typ, vor der Bar, gekämpft hatte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Ich klappte den Laptop wieder zu und saß für einen Moment im Dunkeln und holte tief Luft. Er konnte nicht diesen Luzifer gemeint haben.
Es war nur eine Geschichte. Eine verdammte Geschichte. Eine Geschichte, die man jungen Engeln erzählte.
Ich sprang auf und ging zum Fenster, aus dem mich der Mond anschien.
„Nur eine Geschichte", murmelte ich nochmal, wahrscheinlich, um es mir selbst einzureden.
„Was hast du gesagt?", murmelte Aurora hinter mir verschlafen. Als ihre Stimme meine Ohren erreichte, vergaß ich für einen Moment, dass meine Welt für sie nicht bestimmt war. Ich vergaß für einen Moment, dass ich sie nicht sehen durfte. Aber das hatte ich auch schon vergessen, als sie mir heute Abend die Nachricht geschrieben hatte.
Ich drehte mich zu ihr um und sah sie, im schwachen Mondlicht, auf der Bettkante sitzen. Sie hatte ein T-Shirt an, dass ihr viel zu groß war und ihr bis zu den Knien reichte und ich wünschte insgeheim, es wäre mein T-Shirt, das sie da anhatte.
Sie spürte wahrscheinlich, wie ich sie beobachtete und kam langsam auf mich zu, beobachtete mich mit ihren großen Augen.
Ich sollte gehen, aber ich konnte es nicht. Nicht, wenn sie so vor mir stand und sich mein ganzer Körper nach ihr sehnte. Und mein Verstand, meine Seele, einfach alles von mir wollte bei ihr sein und das war schon so, seit ich sie das erste Mal gesehen hatte. Mir kam es vor, als sei der Brand in ihrem Café schon eine Ewigkeit her. Das Haus am See, der Unfall, unser erster Kuss.
Jetzt stand Aurora vor mir und legte ihre kleinen Hände auf meine Brust und diese Berührung ließ mich schon dahinschmelzen, als hätte ich Jahre darauf gewartet, sie wieder spüren zu dürfen.
Sie sah mich immer noch mit diesem Blick an, den ich am liebsten immer an ihr sehen mochte. Ihre schönen Augen musterten mich, als wüssten sie nicht, was als Nächstes passieren würde.
Und ich wusste es auch nicht.

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