39

32 0 0
                                    

F I N N

Ich sah, wie sie da in der Mitte dieser hässlichen Villa stand, angekettet an zwei Pfählen, wie ein wildes Tier.
Ihre Handgelenke waren schon wund von den eisernen Ketten, die sich um sie legten. Mir lief es eiskalt den Rücken runter, als mir auffiel, dass sie überall blutbefleckt war und ihre Sachen zerrissen.
Die Wut pulsierte in mir und schien fast die Überhand zu nehmen, als mein Blick auf Luzifer fiel, der mit einem Dolch neben ihr stand und mich dämlich angrinste.
Aurora's Gefühle brachen auf mich ein, zwangen mich fast in die Knie. Schmerz, Wut, Trauer, Angst. Wenn ich könnte, würde ich ihr das alles nehmen. Ich würde ihr alles abnehmen, hätte ich die Möglichkeit dazu. Doch dazu war ich leider nicht in der Lage.
In mir sammelte sich meine ganze Kraft. Ich würde Luzifer dafür bezahlen lassen. Innerlich stellte ich mir vor, wie sein Kopf über den kalten Boden rollte.
Luzifer trat vor Aurora und versperrte mir meinen Blick auf sie, was mich nur noch rasender machte.
„Schön, dass du es einrichten konntest, zu so einem schönen Ereignis zu erscheinen."
„Halt die Klappe, du dreckiger Dämon", schrie ich ihn an und alles in mir wollte sich auf ihn stürzen und ihn in Stücke reißen, für das, was er meinem Mädchen angetan hatte.
„Jetzt werden wir aber mal nicht unhöflich, ich habe dich extra eingeladen", seine Augen musterten mich und er hörte einfach nicht auf, zu grinsen, „Deine Einladung waren die Schnitte, die ich auf der Haut deiner kleinen Halbgöttin verteilt habe."
Ich biss meine Zähne aufeinander und ballte meine Hände zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortraten.
Es fehlte nur ein kleiner Tropfen, dann würde mein Fass überlaufen. Mir wäre alles egal, ich würde ihn töten. Sofort, auf der Stelle.
„Fass' sie nicht noch einmal an", schrie ich und ging ein paar Schritte in seine Richtung, als ich sah, wie seine dreckigen Finger ihre Haare aus ihrem Gesicht strichen.
„Da ist aber jemand nicht gut gelaunt", lachte der gefallene Engel und wendete sich von Aurora ab, „Ich habe ihr schon alles erklärt, wie das Ganze hier ablaufen wird. Wir haben nur noch auf dich gewartet. Und da du nun angekommen bist, können wir ja beginnen. Ich habe es satt, noch länger zu warten. Ich habe schon zu viele Jahre gewartet."
Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten und ich rannte los. Ich spürte, wie meine Flügel aus meinem Rücken strahlten und dem großen Saal ein wenig Licht schenkten. Doch bevor ich bei ihm angelangt war, stieß mich jemand zur Seite und ich landete unsanft auf dem harten Boden. Doch ich richtete mich schnell wieder auf und stand meinem Widersacher gegenüber. Er war etwas größer als ich und ich erkannte ihn. Er war vorhin mit im Wald, als sie mir einen Holzpfahl in den Rücken gesteckt hatten.
Ich rannte auf ihn zu und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht, sodass er zu Boden taumelte. Jemand griff mir von hinten an die Schultern, doch ich nahm seine Arme, warf ihn über mich und rollte mit ihm über die Fliesen. Ich konnte die Überhand gewinnen und hatte ihn nun unter mir. Seine blonden Haare waren voller Staub. Ich erinnerte mich an all das, was uns im Institut gelehrt wurde. Ich fing an, ihn zu würgen, doch jemand trat mir in die Seite, sodass mir für einen Moment die Luft wegblieb und ich liegen blieb. Nun saß ein weiterer von Luzifers Handlangern auf mir und schlug mir heftig ins Gesicht, wobei ich spürte, wie meine Augenbraue aufplatzte. Ich spannte meine Flügel an, sodass der Mann von mir katapultiert wurde. Als ich wieder auf den Beinen war, sah ich zu Aurora, die mit angsterfüllten Augen an ihren Ketten zerrte, aber zum Glück immer noch am Leben war.
Doch dieser Moment der Unaufmerksamkeit, bekam ich teuer zu spüren. Mich trafen mehrere Schläge in den Bauch und durch einen Tritt in meine Brust ging ich erneut zu Boden, schlug mit dem Hinterkopf auf. Ich sammelte meine Kräfte und mein Körper heilte sich, aber es kamen immer mehr von Luzifers Anhängern und beteiligten sich an dem Kampf. Ich stand schnell wieder auf, wich einigen Schlägen aus, schwebte nach oben, wenn ich musste und griff aus der Luft an. Ich nahm einen leichten Gegner und zog ihn mit zu mir nach oben. Dann schleuderte ich ihn gegen eine Gruppe Angreifer, die nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte.
Ich schaffte das unmöglich allein, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Viele Männer standen immer noch einfach nur da und warteten ab, bis sie gebraucht wurden. Luzifer drehte seinen Dolch gelangweilt in der Hand hin und her.
„Gib es auf Finn, du kannst sie nicht retten! Sie wird sterben. Ich habe nicht hunderte Jahre gewartet, um mir das jetzt von einem kleinen rebellischen Engel kaputt machen zu lassen!", rief mir der gefallene Engel entgegen.
Ich ließ mich auf den Boden sinken und niemand griff mich an. Sie standen alle um mich herum und beobachteten mich.
„Du wirst sterben, wenn du so weiter machst", seufzte Luzifer und grinste in meine Richtung, „Heute müssen ja nicht unbedingt zwei junge Menschen sterben."
Ich kochte innerlich, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich Aurora retten konnte. Ich war allein und um mich herum standen ungefähr fünfzehn Dämonen, gegen die ich kämpfen musste, um an mein Mädchen heranzukommen.
Aurora sah mich mit blassen Augen an und ihre Mundwinkel zuckten zu einem schwachen Lächeln. Das Blut auf ihrem Körper tat mir im Herzen weh, aber ich war machtlos und konnte ihr allein einfach nicht helfen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht allein hier her zu kommen? Wieso hatte ich gedacht, dass ich es alleine mit Luzifer aufnehmen konnte?
Ich war umzingelt und noch nicht mal annähernd in die Nähe von Luzifer und Aurora gekommen. Eine falsche Bewegung und sofort würden sich die Dämonen auf mich stürzen.
War es jetzt vorbei? Hatte ich verloren und würde auch sie verlieren?
Musste ich mir jetzt mit ansehen, wie der gefallene Engel ihr den Dolch ins Herz stach?
Das durfte nicht passieren. Ich durfte sie nicht verlieren. Ich war ihr verdammter Schutzengel, ich konnte nicht daneben stehen und einfach nur zuschauen, wie ihr das Leben genommen wurde.
Sie durfte einfach nicht sterben, nicht nachdem ich mich so sehr in sie verliebt hatte. Nicht nachdem ich ihr so nahe stand und sie einfach in mein Leben gehörte.
Nicht nachdem mir bewusst geworden war, dass ich ohne sie nicht leben konnte.
Es bildete sich ein Kloß in meinem Hals und meine Brust schnürte sich zu, wenn ich daran dachte, dass ich nichts tun konnte.
Ich hatte alles versucht, aber ich hatte keine Chance gegen Luzifer und seine Anhänger, die sich wie Raubtiere auf mich stürzen würden, wenn ich meinem Mädchen noch einen Schritt näher kommen würde.
Dann sah ich, wie Luzifer sich zu Aurora umdrehte und auf sie zuging und mir blieb das Herz stehen.
Würde er sie jetzt umbringen?
„Ich hoffe, du machst keinen Ärger, kleiner Engel. Sieh' einfach zu und genieße!", rief der dunkle Engel mir zu.
Mir liefen die Tränen und gleichzeitig hatte ich eine Wut, die ich noch nie zuvor hatte.
Ich rannte, ohne nachzudenken, auf Aurora zu, stieß mich ab und ließ mich von meinen Flügeln gleiten. Doch jemand hatte es geschafft meinen Fuß zu packen und zerrte mich zurück nach unten, wo sich sofort drei weitere auf mich stürzten. Den ersten konnte ich mit einem Schlag ins Gesicht abwehren, aber sie bekamen beide meiner Arme zu packen und hielten mich fest. Ich wehrte mich dagegen, so gut ich konnte. Ein anderer trat mir in die Kniekehlen und ich landete schmerzhaft auf meinen Knien. Die Frau, der ich schon im Wald begegnet war, hielt meinen Kopf fest und drehte mich in Luzifers Richtung, zu dem Geschehen, das so hätte niemals eintreten dürfen.
Luzifer grinste mich noch ein letztes Mal an und säuberte auch noch ein letztes Mal die scharfe Klinge seines Dolches.
Aurora sah so schwach aus, als hätte sie jegliche Willenskraft, zu überleben, längst verloren. Ihre Augen musterten nicht traurig und ließen mich aber keine einzige Sekunde außer Acht. Ich wollte ihr noch so viel sagen, noch so viel zeigen. Ich wünschte, wer hätten mehr Zeit miteinander gehabt.
Mein Herz klopfte immer schneller gegen meinen Brustkorb, als Luzifer die Klinge an ihrer Brust ansetzte, an der Stelle, an der sich ihr Herz befand.
Ich spürte ihre Angst immer deutlicher und auch einen Schimmer von Panik, den sie krampfhaft zu unterdrücken versuchte.
Wenn ich doch noch irgendetwas tun könnte, um sie zu retten. Ich würde alles tun, aber ich war gefangen, sie hatten mich unter Kontrolle.
Ich hatte genauso viel Angst, wie sie. Ohne sie war mein Leben nichts mehr. Nur noch eine leere Hülle, in der ich mich bewegte.
Luzifer sicherte seinen Griff um den Dolch und zog an Aurora's Haaren, sodass sie ihn ansehen musste.
Ich schrie und brüllte, zog an meinen Widersachern, kam ein paar Zentimeter weiter in ihre Richtung, aber es reichte nicht. Ich strampelte und schlug um mich, um sie zu retten.
Aber ich schaffte es nicht, mich loszureißen.
Luzifer fing an, Druck auf den Dolch aufzubauen und ich sah das Blut, was sich um die Spitze bildete auf ihrer Haut.
Ich hasste es, wie er diesen Moment genoss und, wie qualvoll er ihn gestaltete. Ich spürte ihre Schmerzen, die durch ihre Gedanken zuckten und, wie die Angst immer größer wurde.
„Lass' sie in Ruhe! Ich werde dich töten Luzifer!", schrie ich und funkelte ihn böse an.
Doch er lachte nur und drückte weiterhin auf den Dolch.
Ich dachte, es wäre vorbei und ich würde sie verlieren, doch dann ging das große kalte Scheunentor erneut auf und knallte gegen die steinernen Wände. Alles wurde still und nur eine einzige Stimme hallte durch die alte schäbige Villa in meinem Rücken.
„Luzifer! Du wirst dieses Mädchen nicht töten."
Ein Hauch von Erleichterung durchzuckte meinen Körper, als Luzifer den Dolch absetzte und sich zu dem Neuankömmling umdrehte.
Auch Aurora schien wieder anzufangen, zu atmen.
Der Kampf war noch nicht vorbei.

SCHUTZENGELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt