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A U R O R A

Eine Woche war vergangen und heute war der Tag, den ich gehofft hatte, nicht so zeitig zu erleben. Aber nun war er da. Die Beerdigung von Logan Hill.
Ich betrachtete mein Spiegelbild, ein Wrack auf zwei Beinen. Der Schmerz saß immer noch tief und die Beerdigung machte es nicht besser, nein, sie erinnerte mich nur daran, was ich verloren hatte.
Mein schwarzes Kleid hatte ich bis jetzt nur zur Beerdigung des Bruders meiner Oma getragen und hatte gehofft, es nie wieder tragen zu müssen.
Doch ich trug es, gerade in diesem Moment. Meine sonst glatten Haare hatte ich mir heute gelockt und ich hatte versucht meine Augenringe weg zu schminken.
„Bist du soweit, mein Schatz?", meine Mutter stand in der Tür, ebenfalls ganz in schwarz.
Wir fuhren nicht lange, da zog auch schon die kalte Mauer des Friedhofes an uns vorbei und wir fuhren durch das große eiserne Tor. Der Himmel war bewölkt und jeden Moment könnte ein Regentropfen aus den Wolken brechen.
‚Eine erdrückende Dramatik', dachte ich.
Als ich das große Foto von Logan sah, worauf er so glücklich lächelte, als könnte nichts ihn je auf die Knie zwingen, musste ich mit den Tränen kämpfen. Der Sarg stand daneben, glänzte im vollen Totenschein und war mit den feinsten Blumen geschmückt.
Als würden sie das Schreckliche, was sich dahinter verbarg verstecken wollen und allen Angehörigen das Gefühl vermitteln, dass alles gut sei. Ich hatte mir geschworen nicht zu weinen, hatte mir geschworen, dass die Tränen nicht siegten. Logan hätte nicht gewollt, dass ich traurig war.
‚Aber wie zum Teufel soll das funktionieren? Wie soll das gehen, wenn ich dieses Foto sah und dabei wusste, dass ich dieses Lächeln nie wieder sehen würde?', schrie ich stumm.
Die Beerdigung zog an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Nur mein Körper war anwesend, meine Seele und meine Gedanken waren irgendwo in der Vergangenheit versunken. Und das würde auch noch eine Weile so weitergehen.

***

Ich lag in meinem Bett, starrte an die Decke und mir wurde bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich hatte keinen Job mehr, hatte meine Leidenschaft, meine Stammkunden und den leckeren Duft des Gebäcks verloren. Und ich hatte einen sehr wichtigen Menschen verloren.
Hätte es jetzt nicht an der Tür geklingelt, wäre ich sicherlich den ganzen Abend nicht aufgestanden, hätte nicht mal zu Abend gegessen und wäre früher oder später eingeschlafen. Doch stattdessen erhob ich meine müden Glieder und schleifte mich zur Tür, wo ich Cece vor mir fand.
„Hey, Süße wie geht es dir?", fragte sie, worauf sie nur ein Brummen meinerseits zur Antwort bekam, „Schau doch nicht so traurig. Logan sieht das gar nicht gern." Sie lockte tatsächlich ein Lächeln aus mir heraus. Cece ließ sich auf mein Bett fallen und ich legte mich neben sie.
„Ich fühle mich schlecht. Wie konnte ich überleben und wieso hatte Logan nicht ebenfalls das Glück gehabt? Eigentlich war ich auch so gut wie tot gewesen." Cece sah mich mitleidig an.
„Das weiß allein dein Schutzengel. Und glaub mir, du hattest einen großen Schutzengel, Süße. Aber darüber solltest du dir nicht mehr den Kopf zerbrechen und ich weiß genau, was du jetzt zur Ablenkung brauchst!"
„Was?", brummte ich und ahnte nichts Gutes.
„Hier in der Nähe steigt eine Studentenparty und da nehme ich dich heute mit. Also zieh' dir was Schickes an. Das wird lustig."
Das war das Letzte, was ich jetzt wollte, aber Cece's Blick ließ mir keine andere Wahl. Sie würde eh keine andere Antwort als eine Zustimmung dulden.
„Ich hasse dich", sagte ich, als ich ins Bad ging, um aus meinem blassen Gesicht etwas Ansehbares zu gestalten.
„Ich liebe dich auch, Süße."
Als ich fertig war, zog Cece mich aus dem Haus und schon saßen wir in ihrem Auto. Wir fuhren nicht lange und bogen in die große Einfahrt des Hauses ein. Bunte Lichter tanzten aus den großen Fenstern, Leute standen draußen mit ihren Zigaretten in der Hand und die Musik drang bis in Cece's kleinen Ford hinein. Sie frischte nochmal schnell ihren Lippenstift auf und grinste mich an.
„Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht." Wir stiegen aus dem Auto und liefen auf den Eingang zu, wo wir an einigen aufmerksamen Blicken von ein paar Jungs vorbei mussten.
„Wir holen uns erst mal was zu Trinken, sonst macht das Ganze hier doch gar keinen Spaß", schrie Cece, um die Musik zu übertönen und wackelte im Takt zur schön dekorierten Bar. Ich folgte ihr und versuchte der Ablenkung nachzukommen, was mir am Anfang nicht so gelang. Ich wollte eigentlich allein sein, wäre am liebsten hinaus gerannt und hätte einen nächtlichen Spaziergang gemacht.
Das erste Glas war schnell leer und es folgte ein zweites, drittes, viertes... Wir lachten, erzählten und Geschichten und lachten noch mehr. Und allmählich wollte ich nicht mehr allein sein.
„Komm, lass uns endlich tanzen", feixte Cece und schwankte vom Barhocker. Als ich mich von der Bar löste, wurde mir auch schwindlig, aber alles sah so lustig aus. Wir stürzten uns wie zwei Bekloppte auf die Tanzfläche und bewegten uns zur Musik, in mitten all dieser Studenten, von denen ich nicht einen einzigen kannte. Ich vergaß, was passiert war, fühlte mich frei und tanzte mir alles von der Seele.
Mit der Zeit wurde jemand auf meine beste Freundin aufmerksam. Ein gutaussehender Mann, wahrscheinlich ein, zwei Jahre älter als wir. Sie tanzten miteinander, redeten und Cece schien begeistert von ihm zu sein.
Also ließ ich die beiden alleine und ging auf Toilette, was ich durch den ganzen Spaß fast vergessen hätte. Die Toiletten befanden sich nach einem langen Gang in der hintersten Ecke des Hauses, hatte ich das Gefühl.
Als ich fertig war, wollte ich gerade wieder zurück zu Cece, als sich mir jemand in den Weg stellte, den ich durch meinen erhöhten Pegel zu spät sah und voll in ihn hinein stolperte.
„Vorsichtig, Süße." Ich sah in ein markantes Gesicht, das mich gierig ansah, „Du hast es dir ja schon gut gehen lassen."
„Entschuldigung, ich muss meine Freundin finden", nuschelte ich und wollte an ihm vorbei. Doch er drückte mich sofort gegen die Wand und seine starken Hände packten mich an der Hüfte, sodass mir ein unbehaglicher Schauder über den Rücken lief.
„Kann deine Freundin nicht auch noch ein bisschen warten?", raunte er und fing an, Küsse auf meinem Hals zu verteilen.
„Lass mich los!", sagte ich jetzt lauter. Auch wenn er verdammt gut aussah, ließ ich mich nicht mal im betrunkenen Zustand auf so etwas ein. Ich versuchte, ihn von mir zu schieben, aber er drückte sich nur noch fester gegen mich.
Doch plötzlich war sein Gewicht weg und an meiner Stelle wurde jetzt er gegen die Wand gedrückt.
Ein anderer Mann schaffte es, dass der aufdringliche Typ von mir abließ und zurück zur Party ging.
Dann drehte er sich um und ich sah direkt in seine Augen, deren Bernsteinfarben mich in ihren Bann zogen.
Sein schwarzes Haar lag ihm ein bisschen in der Stirn. Er beugte sich zu mir und ich konnte seinen wunderbaren Duft riechen, sodass meine Knie weich wurden.
Der Blick, mit dem dieser Mann mich ansah, war besonders, intensiv, verführerisch und so geheimnisvoll, dass sich Gänsehaut auf meiner Haut breit machte.
„Geht es dir gut?", fragte er mit einer tiefen, beruhigenden Stimme und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich sofort sicher und geborgen.
Es war schwer, in seiner Gegenwart Worte über die Lippen zu bekommen, doch irgendwas musste ich jetzt sagen.
„Ja, danke für... für deine Hilfe... gerade eben." Er lächelte und mein Herz fing an, schneller zu schlagen.
Doch ehe ich etwas sagen konnte, irgendwas, ging er. Er lief den langen Korridor entlang, ich hatte nur noch seinen Rücken im Blick, aber ich hatte das Gefühl, ihm immer noch nah zu sein.
„Hey, alles okay?", Cece tauchte plötzlich auf und sah mich besorgt an, „Du warst auf einmal weg."
Erst als ich den Mann nicht mehr sehen konnte, hatte ich das Gefühl, weiter atmen zu können und wieder halbwegs bei Verstand zu sein.
„Ich war nur eben auf der Toilette", stammelte ich und auch wir gingen zurück.
Danach saßen wir noch eine Weile an der Bar, ließen die Musik auf uns wirken und erzählten bis tief in die Nacht hinein.
Aber meine Gedanken hingen nur an ihm.

F I N N

Ich stand draußen, konnte die Musik noch immer hören. Ich war ihr nicht zu nah und auch nicht zu weit weg.
Ich konnte ihr Herz noch immer in mir schlagen hören und erinnerte mich an das Gefühl, als es wegen mir schneller schlug. Ich sah ihr Gesicht vor mir, so wunderschön. Ihr Duft lag mir noch immer in der Nase.
Verdammt, so durfte ich nicht denken. Nur ein kleiner Hauch davon war verboten.
Aber irgendetwas war an ihr, was mich nicht davon abhielt, in ihrer Nähe sein zu wollen und ich hatte das Gefühl, sie mit jeder Faser meines Körpers beschützen zu wollen, selbst vor einem ekelhaften Typ, wie vor einer Stunde.
Ich ballte die Fäuste und versuchte ihren Duft und ihre Stimme aus dem Kopf zu bekommen.
Ich musste mich voll und ganz auf meine Instinkte konzentrieren. Dafür war ich hier, für nichts anderes durfte Platz sein.
Ich durfte sie einfach nicht so nah an mich heran lassen und doch wollte alles in mir Aurora kennenlernen.

SCHUTZENGELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt