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F I N N

Ihr Haar, in dem verschiedene Brauntöne miteinander spielten lagen in sachten Wellen um ihre Schultern. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Atem ging ruhig. Sie schlief so friedlich, dass ich ihr die ganze Nacht hätte zuschauen können.
Als ich sie so sah, verstand ich nicht, wie man ihr so etwas antun konnte. Welche Absicht hatte die geschlossene Gesellschaft, die ausschließlich aus Männern bestanden hatte?
Ich ließ meinen Finger vorsichtig über ihre Stirn gleiten, hinunter zu ihrer leicht rosigen Wange.
Plötzlich spürte ich einen Instinkt, der durch meine Adern floss als würde er schon einhundert Jahre fließen. Ich werde sie beschützen, egal was dazu nötig war. Widerwillig musste ich mich von ihr abwenden und stieg, so wie ich auch gekommen war, wieder aus dem Fenster, sah sie noch ein letztes Mal an und war verschwunden.

***

Alle hatten sich versammelt. Jeder aus dem Institut war hier, um mich zu ehren. Es war immer eine große Zeremonie, wenn ein junger Engel seinen ersten Schutzbedürftigen bekam. Ich durfte schon bei ein paar dabei sein, aber heute spielte ich die Hauptrolle und das fühlte sich tausend mal anders an, als nur zuzuschauen.
„Willkommen", begrüßte Elijah die Versammlung im großen Saal. Ich konnte nicht ruhig stehen bleiben und merkte selber, wie ich an meinem Anzug zupfte. Sophie stieß mich von der Seite an und lächelte mir zuversichtlich zu, was mich ein bisschen beruhigte.
Ich war der erste der sechs jüngsten Engel, der seinen eigenen Schützling bekam und ich glaube ich war noch nie so aufgeregt.
Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen und presste meine Zähne aufeinander, während Elijah weiterhin ankündigte, zu welchem Zweck sich alle versammelt hatten.
„Finn Winchester, komm bitte nach vorn." Jetzt war es soweit. Ich lief nach vorn, drängte mich durch aufmerksame Gesichter und spürte die vielen neugierigen Blicke in meinem Rücken.
„Dieser junge Mann hatte am gestrigen Tag seine erste Mission und hat sie großartig gemeistert und ein junges Mädchen gerettet." Alle im Saal fingen an, zu klatschen und Stolz regte sich in meiner Brust. Ja, ich hatte es geschafft. Endlich hatte ich das Gefühl vollständig einer von ihnen zu sein.
Mit einem kurzen Räuspern, worauf es sofort wieder still wurde, fuhr der Leiter des Institutes fort: „Daher habe ich beschlossen, Finn Winchester an Aurora Anderson zu binden!" Wieder folgte lautes Jubeln, bis es mit einer Handbewegung wieder endete.
Ich nahm den schimmernden Kelch, der mir überreicht wurde und starrte in die rötliche Flüssigkeit, die unruhig im Silber hin und her schwappte. Ich wusste genau was sich darin befand. Es war Aurora's Blut mit Engelwurz vermischt. Nur wenn ich das trank, war ich mit ihr verbunden.
Also trank ich und verzog mein Gesicht bei dem widerlichen Geschmack. Alle Augen lagen auf mir, wie hungrige Löwen, die darauf warteten, das etwas passierte.
Erst spürte ich gar nichts, doch dann brodelte eine Macht in mir, die mich auf die Knie zwang. Bilder von Aurora's Leben zischten an meinem inneren Auge vorbei und kratzten an jeder Ecke meines Gehirns. Ich sah, wie sie von einem kleinen Geschöpf zu der starken jungen Frau heranwuchs, die sie jetzt war, als wäre ich bei jedem Atemzug dabei gewesen. Ich hörte ihr Herz, dass in meinen Ohren pochte, spürte ihre Trauer und ihren Schmerz, den sie erlitten hatte. Ich wusste, ohne bei ihr zu sein, wie sie sich fühlte, ob es ihr gut oder schlecht ging.
Ich wusste nicht, wie lange das gedauert hatte, wie lange ich wie gelähmt war. Aber als ich meine Augen wieder öffnen konnte, wussten alle, dass es geschehen war.
„Nehme dir deine Aufgabe zu Herzen als wäre es dein eigenes Leben, das du beschützen müsstest", beendete Elijah Cullen die Zeremonie und entließ mich den Massen, die mir jetzt alle gratulierten.
„Ich bin schon ein bisschen neidisch", kam Sophie auf mich zu und boxte mir gegen die Schulter. Mio und Ming kamen ebenfalls sofort zu mir.
„Glückwunsch, Winchester. Ist sie denn auch gutaussehend?", Mio zwinkerte vielsagend, worauf er von seiner Freundin einen Ellenbogenhieb in die Seite bekam.
„Er weiß hoffentlich, dass er keine Beziehung mit ihr eingehen darf. So lautet das Gesetz." Ming sah mich an, damit ich ihr nochmal bestätigte, dass ich mich daran halten würde. Eine enge Bindung würde sowieso nur ihr Leben gefährden und das durfte ich auf keinen Fall zulassen.
„War doch nur ein Scherz", lachte Mio und legte einen Arm um die Schultern seiner Freundin.
„Jetzt hast du doch gar keine Zeit mehr für uns", seufzte Saskia, die jetzt auch zu unserer kleinen Gruppe stieß, gespielt vorwurfsvoll. Aber wie jeder hier, wusste sie, dass jeder Engel seinen Pflichten nachkommen musste.
„Ich will auch endlich meinen Schützling", jammerte Mio und verzog seine Lippen zu einem Schmollmund.
„Den wirst du schon noch früh genug bekommen", meinte Ming und pustete sich eine schwarze Strähne, die sich verirrt hatte, aus ihrer Stirn.
Musik dröhnte nun aus den hohen Boxen und die Engel begannen, zu tanzen. Sie schwebten hauchzart über den, in heller Farbe, gefliesten Fußboden. Manche zeigten ihre prachtvoll glänzenden Schwingen.
Hier konnten wir wir sein. Wir mussten uns im Institut vor niemandem verstecken. Außerhalb dieser Wände durften wir nur im Notfall unser wahres Ich zeigen, da sonst jeder davon Wind bekommen würde und wie die Menschen eben so sind, würden sich alle wie die Geier auf uns stürzen. Menschen sind neugierig, wollen immer alles wissen und es zu ihrem eigenen Zwecke nutzen. Das durften wir nicht riskieren.
Ming zog Mio auf die Tanzfläche, der mit genervtem Blick hinter ihr her tappte. Ich stellte mich mit Sophie und Saskia an den Rand und wir beobachteten die beiden beim Tanzen. Oder eher beim Versuch zu tanzen, Mio stellte sich etwas rar auf den Beinen an.
Aber als die beiden Mädchen ebenfalls zum Tanzen aufgefordert wurden, zog ich mich schließlich zurück und verließ die Party. Wie automatisch zog es meine Füße zum Krankenhaus.
Das Krankenhaus, in dem Aurora lag. Ich wollte mich einfach nur vergewissern, dass es ihr gut ging. Ich konnte es mir nicht leisten nachlässig zu sein, also versuchte ich, meine Arbeit so gründlich wie möglich zu machen.
Und so fand ich mich neben ihrem Bett wieder, in dem sie immer noch schlief, als wäre das, was jetzt bei mir passiert war, die Zeremonie, nicht passiert und ich wäre nicht von ihrer Seite gewichen, sondern hätte die ganze Zeit hier gestanden und auf sie aufgepasst. Ihr Herz pochte sanft in mir, nur so stark, dass ich es gerade so spüren konnte. Ich war aufgeregt und neugierig auf das, was uns beide noch erwarten würde. Und ich spürte mich lebendiger und stärker, seitdem ich ihr Blut getrunken hatte. Meine Sinne kribbelten, meine Kräfte pulsierten unter meiner Haut und und zuckten wie Stromschläge durch meinen ganzen Körper. Ich fühlte mich, als könnte ich viel mehr schaffen als bisher, könnte Aurora in jeder Situation erfolgreich beschützen und das war ein gutes Gefühl. Es verdrängte meine Unsicherheit immer weiter, trieb sie in die hintersten Ecken meines Kopfes, und stärkte mich.
Plötzlich hörte ich Schritte.
Draußen auf dem Gang.
Zuerst dachte ich, es wäre eine Schwester, die nach dem Rechten sah, aber dann blieben die Schritte vor diesem Zimmer stehen. Ich drückte mich an die Wand neben der Tür und richtete meine Augen wachsam auf die silberne Klinke, die jetzt langsam nach unten gedrückt wurde. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und meine Gedanken rumorten. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, als wäre jedes kleinste Geräusch ein Todesurteil und das gefiel mir gar nicht.
Ein Mann trat um die Ecke und wollte zu Aurora. Doch das ließ ich nicht zu.
Mit einer unbekannten Schnelligkeit schoss ich nach vorne und presste ihn an die Wand, aber im Dunkeln konnte ich nur einzelne Gesichtsumrisse erkennen. Sie waren markant und schon mittleren Alters. Eine Vertrautheit machte sich in mir breit. Ich kannte diesen Mann und hatte augenblicklich den ekelerregenden Zigarettengeruch in der Nase. Wut kochte in mir und meine Hand schoss, wie von alleine nach vorn, meine Finger gruben sich in den Hals des Eindringlings, des Mannes, der das Feuer im Café gelegt hatte. Nach Luft schnappend wusste er nicht, wie ihm geschah, als ich ihn vom Boden abhob und seine Füße unter ihm ins Leere strampelten und sich nach dem Boden sehnten.
Mein Triumph schwächte meine Aufmerksamkeit und so bekam ich nicht mit, wie mein Gegenüber sein Messer aus dem Hosenbund zog und es mir in den Bauch stieß. Meine Kraft schwand, sobald die Klinge meine Bauchdecke durchbrach und der Mann rannte schwer atmend davon.
Ich zog das Messer heraus und presste meine Hand gegen die Wunde, verfluchte mich selbst für meine Unachtsamkeit, so etwas durfte nicht passieren.
Vorsichtig sah ich zu Aurora herüber, die jedoch, zu meinem Glück nichts davon mitbekam und friedlich schlief. Ich drückte weiter auf die Einstichstelle, sammelte meine Energie, lud sie auf und steuerte sie, bis mein Bauch nur noch Spuren von ausgetretenem Blut zeigte. Die Wunde hatte sich vollkommen verheilt und durch die Verbundenheit mit Aurora verlief dieser Prozess schneller, als die anderen Male zuvor, wenn ich mich im Training mal verletzt hatte.
Keuchend rappelte ich mich auf und ging zu ihr. Irgendwer war hinter ihr her und hatte dazu auch einen Grund.
Und genau das werde ich herausfinden und diesen Jemand werde ich finden.

SCHUTZENGELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt