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A U R O R A

Ich wollte dieses Bett nie wieder verlassen. So gut hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen und meine Hände suchten automatisch nach Finn und tasteten die Matratze neben mir ab.
Doch, als sie seinen Körper nicht fanden, öffnete ich widerwillig die Augen und sah sofort den Zettel, der ordentlich auf dem Nachttisch verweilte.

Fühle dich wie zu Hause. Ich bin arbeiten.
Du kannst so lange bleiben, wie du willst.
Finn

Irgendwie musste ich schmunzeln, dass er mir einen Zettel hinterließ, um sicher zu gehen, dass ich weiß, wo er war.
Ich stieg aus dem weichen Bett und sah an mir herunter. Ich konnte nicht schon wieder diese Sachen anziehen. Ob es ihn stören würde, wenn ich mir etwas Frisches nahm?
Ohne weiter darüber nachzudenken ging ich in sein Ankleidezimmer und blieb staunend stehen. Das hatte ich mir schon immer gewünscht.
Ich nahm mir einen grauen Pullover heraus und ging ins Badezimmer. Sofort umhüllte mich Finn's Duft. Sein Parfum roch wahnsinnig gut und ich fragte mich, wie lange er noch weg sein würde.
Ich erinnerte mich an gestern zurück und wie viel Spaß wir gehabt hatten, als würden wir uns schon ewig kennen.
Er war zu mir ins Bett gekommen und war die ganze Nacht an meiner Seite geblieben. Er hatte mich für einen kurzen Moment das Schreckliche der letzten Tage und Wochen vergessen lassen.
Ich konnte nicht glauben, dass er mich abwies. Er hatte mich geküsst, wir haben zusammen in einem Bett geschlafen, wir haben gekuschelt und er will mir wirklich weiß machen, dass er nichts mit mir zu tun haben will?
Wie sollte ich das verstehen? Spielte er mit mir?
War ich naiv, zu glauben, dass er seine Meinung vielleicht doch noch ändern könnte?
Es zerriss mich innerlich, dass ich nicht wusste, woran ich bei ihm war. Dieses Gefühl kannte ich bis jetzt noch nicht, aber es fühlte sich schrecklich an und machte mich nervös.
Ich machte mich fertig und überlegte, was ich jetzt als nächstes am besten tun sollte.
Nach Hause wollte ich noch nicht, dazu war ich noch zu schwach und ich fühlte mich noch nicht bereit, meiner Mutter erklären zu müssen, dass ich fast ertrunken wäre.
Wenn ich es ihr überhaupt erzählen werde.
Es war jetzt schon fast Mittag und ich hatte Hunger, also schaltete ich den Fernseher an und beschloss etwas zu Essen zu kochen.
Die Vorstellung gefiel mir, Finn etwas anbieten zu können, wenn er von seiner Arbeit kam. Schließlich musste er wahrscheinlich den ganzen Tag vor irgendeinem Computer hocken, also konnte er sich ja an etwas erfreuen, wenn er nach Hause kommen wird.
Hilfe, es fühlte sich an, als wären wir in einer Beziehung und schnell musste ich mich daran erinnern, dass dies nicht so war und er mich ja eigentlich nicht mehr sehen wollte.
Ich entschloss mich dazu, Nudeln zu kochen. Dabei konnte man schließlich nicht viel falsch machen und aus irgendeinem Grund wollte ich, dass ihm mein zubereitetes Essen genauso schmeckte, wie mir sein Essen geschmeckt hatte.
Ich band mir meine Haare zu einem lockeren Dutt und summte zum Musiksender, der im Hintergrund lief.
Die Nudeln waren schnell fertig und da ich nicht wusste, wie lange Finn arbeitete und wann er demzufolge zurückkommen würde, aß ich meine Portion und stellte den Rest für ihn beiseite.
Dann machte ich die Küche sauber und richtete das Bett, das ich unordentlich verlassen hatte, wieder her.
Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen und mir gingen langsam die Ideen aus, was ich noch tun könnte.
Doch dann fiel mir eine Sache ein, die ich eigentlich nicht tun sollte. Dazu hatte ich nicht das Recht und es war mir verboten, aber dennoch versuchte ich mich daran zu erinnern, wo Finn seinen Zeichenblock hingelegt haben könnte. In mir brannte die Neugier viel zu sehr, zu sehen, was er da gezeichnet hatte, als dass ich auf meinen Verstand hören konnte.
Schließlich war er jedoch selbst dran Schuld, warum auch immer er so geheimnisvoll damit umging. Ich sah in der Kommode unter dem Fernseher nach, aber da war gar nichts drin. Keine Zeitungen, Schriftkram oder sonst irgendwas, was man eigentlich verstaute, wenn man nicht wusste wohin damit. Wie konnte es sein, dass die ganze Kommode leer war?
Danach suchte ich in seinem Nachtschrank, aber auch der war leer.
Also ging ich zu seinem Ankleidezimmer und jetzt nagte mein Gewissen an mir. Ich sollte es wirklich nicht tun. Meine Augen wanderten nochmal zur Tür, aber es gab keine Anzeichen dafür, dass Finn schon zurück war.
Also, weil ich es einfach nicht lassen konnte, durchsuchte ich seine Fächer und sah unter jedem T-Shirt und Pullover nach, bis ich den kleinen Zeichenblock entdeckte.
Auch jetzt ermahnte ich mich, dass ich da wirklich nicht hinein sehen sollte, aber schon griffen meine Hände danach und ich setzte mich auf den kleinen Teppich in der Mitte des Zimmers.
Die erste Seite zeigte nur seinen Namen. Ich hatte nochmal die Chance es zurückzulegen, aber meine Neugier siegte, wie so oft. Auf der zweiten Seite tauchte ich in einen wunderschönen, mit Bleistift gezeichneten, Wald. Meine Augen wurden immer größer, als ich durch die nächsten Seiten blätterte. Eine Zeichnung von einem Kaffee und einem Obstkorb daneben, eine Katze, eine Gefängniszelle,...
Sein Talent überraschte mich und ich konnte meine Augen nicht mehr abwenden.
Ich blätterte weiter.
Da war ein Mädchen in der Mitte und hatte den Kopf gesenkt. Über sie stülpte sich eine Hülle, die sie von der Außenwelt abschirmte. Um diese Hülle herum hatte Finn jegliche Art von Gewalt dargestellt, die auf das zerbrechliche Mädchen einwirkten, gezeichnet.
Über dieser Hülle zogen sich Wolken und darüber war ein Engel abgebildet. Ein riesiger Engel, der mit seinen Händen die Schutzhülle um das Mädchen schloss.
Ich war so fasziniert von der Zeichnung, dass ich sie mir ewig ansah. Ich studierte jeden Bleistiftstrich, versuchte zu ergründen wo er angefangen und wo er aufgehört hatte.
Und ich versuchte zu ergründen, was das bedeuten könnte.
Schließlich konnte ich mich von der Zeichnung lösen und beschloss schnell, dass mir diese am besten gefiel.
Doch, als ich weiter blätterte, stockte mir der Atem und ich musste mehrmals blinzeln.
Die Seite zeigte eine Zeichnung von mir.
Es sah so echt aus, als würde ich gerade selbst vor mir sitzen. Finn hatte mich gezeichnet, wie ich ihm im Café, in dem wir uns getroffen hatten, gegenüber gesessen hatte.
Eine Hand ruhte an meiner Kaffeetasse, die andere lag sanft unter meinem Kinn. Er hatte sich mein Kleid gemerkt und ich erkannte jedes Detail wieder.
Diese Zeichnung ließ generell kein Detail aus. Ich trug eine Kette und diese Kette sah genauso aus, wie die, die ich tatsächlich getragen hatte.
Ich blätterte weiter und fand das Haus, von Cece's und Nathan's Eltern, am See. Danach waren nur leere Seiten und ich klappte den Zeichenblock wieder zu, ließ ihn in meinen Händen und starrte die Verzierung des Blockes an.
Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte er mich gezeichnet, wenn er doch angeblich nichts von mir wissen wollte? Wenn er mich doch eigentlich nicht wiedersehen wollte?
Ich hatte noch genau seinen intensiven Blick vor mir. Er hatte mich bei unserem Gespräch bei einem Kaffee nicht aus den Augen gelassen, als wäre ich das Einzige was zählte. Er hatte sich jedes Detail eingeprägt und es in diesen Block übertragen.
Warum tat er so etwas und stößt mich dann wieder von sich?
Am liebsten würde ich ihn danach fragen, aber dann würde er wissen, dass ich in seinen Block gesehen habe und er würde wieder abblocken und seine unsichtbare Mauer aufbauen. Auch, wenn sie unsichtbar war, spürte ich sie jedes Mal, wenn er sie hochzog.
Ich legte den Block wieder dahin zurück, wo ich ihn gefunden hatte und verließ das Ankleidezimmer.
Ich verstand es nicht, ich verstand rein gar nichts von all dem hier.
Warum ich am Leben war, warum Finn auf der einen Seite mit mir flirtete und auf der anderen Seite wieder kalt zu mir war.
Ich sah auf mein Handy, es war schon nach fünf und ich hatte keine Nachricht von Finn. Wie lange ging sein Arbeitstag? Er müsste doch jetzt langsam zurückkommen.
Weitere Stunden vergingen und er wollte einfach nicht durch diese Tür kommen. Ich hoffte, dass es für ihn in Ordnung war, dass ich noch eine Nacht blieb.
Ich zappte durch die Kanäle und hatte mich unter die Decke auf das Sofa gekuschelt. Jetzt war es bereits elf und Finn kam einfach nicht.
Sollte ich mir Sorgen machen? Mir wurde bewusst, dass ich nicht mal wusste, ab wann ich mir überhaupt Sorgen machen brauchte. Ich kannte ihn kaum und hatte keine Ahnung, ob es öfter vorkam, dass er so lange arbeiten musste.
Oder traf er jemanden? War er in einer Bar?
Wenn ich daran dachte, dass er mit jemand anderem zusammen sein könnte, wurde mir schlecht, obwohl ich nicht mal das Recht dazu hatte.
Ich blendete die Gedanken schnell wieder aus und sah mir stattdessen eine Komödie an.

***

Gedämpft hörte ich das Schloss der Wohnungstür und, wie jemand eintrat. Ich ließ meine Augen geschlossen, weil ich nicht wusste, ob ich es geheim halten konnte, dass ich seinen Zeichenblock angesehen hatte, wenn wir jetzt ein Gespräch anfangen würden.
Dann hörte ich, wie sein Handy klingelte und er schnell abnahm, wahrscheinlich, um mich dadurch nicht aufzuwecken.
„Mio, ich kann jetzt nicht reden, Aurora schläft", flüsterte er.
Ich gab alles, um mich schlafend zu stellen und rührte mich nicht einen Millimeter.
„Ja, sie ist noch bei mir... Was redest du da?... Natürlich halte ich mich an das Gesetz."
Er senkte seine Stimme noch weiter, aber ich konnte ihn immer noch verstehen.
Was er dann sagte, wollte ich aber eigentlich gar nicht hören.
„Mio, sie ist mir völlig egal, ich tue nur, das was nötig ist."

SCHUTZENGELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt