Der Himmel lag in einem tiefen Schwarz und legte die Nacht in gähnende Dunkelheit. Dicke dunkelgraue Wolken wanderten in Herden an ihm entlang und schafften Platz für das, was kommen sollte.
Der Sturm war abgeflacht, der Wind hatte sich zurückgezogen, der Regen prasselte nicht mehr auf die Erde, die Tropfen wurden immer weniger.
Langsam, als hätte man alle Zeit der Welt, begann das Schauspiel, welches der Himmel jeden Morgen allen Augen dieser Welt schenkte, wenn man darauf achtete.
Am Horizont erschien das Licht, das die Dunkelheit vertreiben sollte. Der dunkle Nachthimmel vermischte sich nun mit einem feurigen Rot, das sich weit erstreckte.
Die Morgenröte.
Sie war der Übergang von Nacht zu Tag, von Dunkelheit zu Licht und war der erste Schimmer, der gegen das Dunkle ankämpfte. Das Rot zog sich langsam am Horizont nach oben und bildete eine Schnittstelle zwischen zwei Farben, die so viele Bedeutungen hatten.
Dieses Licht brachte neue Erwartungen, neue Hoffnungen, neue Träume. Es vertrieb die Schatten, die sich über alles gelegt hatten.
Die Morgenröte erschien und es war, als ob jeder ihr gerne zuschauen würde. Niemand würde die Augen abwenden. Sie schaffte sich ihre eigene Bühne und war wie eine Pause, zwischen Nacht und Tag, in der jeder einmal richtig durchatmen konnte.
Als wären all die Sorgen für einen kurzen Moment nicht mehr wichtig.
Sie bildete einen Neuanfang für alles und dieser Neuanfang zog sich soeben am Himmel immer weiter empor. Dabei ließ sie der Dunkelheit keine Chance. Sie wurde vertrieben und es war, als könnte sie nur verlieren. Es war ein Spiel von Macht, Schönheit und Sinnlichkeit.
Wenn man es so ansah, dann wärmte die Morgenröte einem jeden das Herz und kämpfte sich für jede einzelne Seele dieser Welt an die Oberfläche.F I N N
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich hier schon saß. Mein Zeitgefühl funktionierte nicht mehr. Nichts in mir schien mehr zu funktionieren. Seit der Sekunde, in der Aurora aufgehört hatte, zu atmen, hatte ich all meine Gründe verloren, zu kämpfen.
Mit meiner Hand, die schwer wie Blei war, zog ich den Dolch aus ihr heraus und warf ihn auf die Fliesen, wo er klirrend liegenblieb.
Zwei schwere Stiefel traten vor ihn und der gefallene Engel hob ihn mit funkelnden Augen auf. Er hielt ihn in den Händen, als würde er ein Neugeborenes halten. So vorsichtig und behutsam, dass man ja nichts kaputt machte.
Mir war es egal, was er jetzt damit vorhatte. Mir war es egal, ob er seinen Platz im Himmel zurückbekommen würde. Mir war alles egal.
Alles in der alten Villa war still, alle waren wohl überrascht, von dem, was passiert war.
Plötzlich kitzelte mich ein sanfter Lichtschein im Gesicht und ich löste für einen kurzen Moment meinen Blick von Aurora. Ich sah nach vorn durch die zweigeflügelte Tür. Der Himmel begann, sich zu verfärben. Erst wurde er in ein sanftes Grau getaucht, bis dieses von rötlichen Farbtönen überstrichen wurde.
Die grausame Nacht hatte ein Ende und ein neuer Tag brach heran. Nur mir wurde schmerzhaft bewusst, dass dieser Tag ohne Aurora begann.
Als wäre nichts passiert, gab es einen Neuanfang und alles wäre beim alten.
Doch in dieser Nacht hatte sich mein ganzes Leben verändert.
Für mich bedeuteten die Farben des Himmels nichts mehr.
Die Morgenröte erweckte keine Kraft in mir. Sie gab mir keinerlei Hoffnung und auch keine Freude. Sie brachte mir Aurora nicht zurück.
Ich wandte mich schwach zu Luzifer, der gar nicht auf den anbrechenden Tag achtete.
Ich hörte nur gedämpft Elijah's Stimme, wie er schrie: „Wage es nicht, Luzifer!"
Doch er konnte nichts mehr dagegen tun. Die Schutzengel waren umstellt von Dämonen, die nur darauf warteten, wieder an ihren alten Platz zurückzukehren, um dort erneut Unruhe zu stiften.
Die Schutzengel hatten den Kampf verloren.
Doch ich hatte viel mehr verloren. Ich wollte kein Engel mehr sein. Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Geburtsrecht nicht verdient hatte. Ich hatte versagt.
Luzifer drehte am Griffstück des Dolches und trennte es von der Klinge.
Ich hatte keine Kraft, ihn aufzuhalten.
Seine Augen leuchteten voller Freude und Sieg. In seinen Pupillen loderte die Morgenröte, die seinen Neuanfang besiegelte.
Das Griffstück beinhaltete seinen Weg zurück in den Himmel und Luzifer wäre nicht mehr der gefallene Engel. Sein Schatten würde wieder zu Licht werden. Seine Dunkelheit würde sich wieder in Helligkeit verwandeln und seine Synonyme, die ihm über die Jahre hinweg gegeben wurden, würden ihm nicht mehr gerecht werden.
Er wollte gerade das Griffstück an seinem Mund ansetzen, als es in dem Saal gähnend hell wurde. Es war eine Lichtexplosion, die die Villa durchflutete und ich musste meine Augen zusammenkneifen.
Doch was ich dann sah, konnte ich nicht glauben und niemals hätte ich gedacht, dass ich das jemals erleben würde.
Alles war ruhig und man hörte nur ein gleichmäßiges Klacken, wenn ein Absatzschuh auf der Steintreppe vor der Villa auftraf.
Die Engel und Dämonen wichen von der großen Tür und drängten sich an die Wände. Niemand dachte mehr an einen Kampf.
Und dann trat ins Licht eine Silhouette, die Gestalt einer Frau.
Als das Licht etwas nachließ, konnte ich meine Augen langsam wieder öffnen und dann sah ich sie.
Sie hatte schönes langes braunes Haar, das in geschwungenen Wellen über ihre Schultern lag. Ihre braunen Augen durchforschten den Saal und blieben an Luzifer hängen, der wutentbrannt zurück starrte.
Sie trug ein langes Kleid, welches an ihrem Oberkörper rabenschwarz begann und über ein angenehmes Grau in ein strahlendes Weiß überging, was auf dem Boden streifte, aber keinen Schmutz aufzunehmen schien. Als wäre es unantastbar. Sie trug einen goldenen Haarreifen und an jedem Arm, drei goldene Ringe.
Die Morgenröte war ein Spiel von Macht, Schönheit und Sinnlichkeit, genau wie diese Frau. Ihre Anwesenheit durchflutete den Raum, wie keine andere.
Aurora, die Göttin der Morgenröte, stand nun in der Mitte des Saals und verdeutlichte den Übergang von Tag zu Nacht in ihrem vollkommenen Dasein.
„Luzifer", ihre Stimme durchströmte den Saal und war wie Musik in den Ohren jeder, die ihr zuhörten.
Ich hielt mein Mädchen fest im Arm, drückte sie näher zu mir.
Ich konnte spüren, wie jeder um mich herum den Atem anhielt und sich kaum getraute ein Geräusch von sich zu geben. Alle Augen waren auf die Frau in der Mitte gerichtet. Noch nie hatte ein Engel aus dem Institut je einen Gott oder eine Göttin gesehen.
Immer waren es nur Geschichten gewesen, die uns Kindern in unseren jungen Engelsjahren erzählt wurden.
Und nun hatte sich die Legende um Luzifer bewahrheitet und die Göttin der Morgenröte stand direkt vor mir.
Luzifer sah wutentbrannt zu der Göttin, die unberührt zwischen all den Dämonen und Schutzengeln stand, als könnte ihr keiner etwas anhaben.
Ich spürte, wie ich zitterte, weil ich keine Ahnung hatte, was jetzt passieren würde. Das Einzige was mir langsam immer mehr bewusst wurde, war, dass Aurora immer mehr ihre sinnliche Wärme verlor.
Dann sah ich, wie Elijah auf die Knie ging und sich vor der mächtigen Frau verneigte und die anderen Engel es ihm gleich taten. Kurz fand ich Sophie's Blick, die mit Tränen in den Augen zu mir herübersah und mir Mitleid schenkte. Dann senkte sie ebenfalls den Kopf.
Die Dämonen blieben stehen, doch waren in ihren Mienen unschlüssig, wechselten ungeduldig zwischen Luzifer und Aurora hin und her.
„Ergebe dich, Luzifer. Es gab einen Grund, weshalb ihr verbannt wurdet. Widersetze dich diesem Bann nicht, du hast es nicht verdient, zurück in den Himmel zu kehren."
Ihre Augen musterten den gefallenen Engel, wie eine Mutter, die ihr Kind rügte, wenn es wieder einmal unartig gewesen war.
„Die Götter haben viel zu lang geherrscht und ihr wart egoistisch. Einst war ich ein großer Engel, ich hätte alles so viel besser gemacht. Meine Zeit kommt jetzt und ich werde euch alle vernichten", spottete er und zeigte mit einer Handbewegung seinen Anhängern das Zeichen, dass sie angreifen sollten.
Sofort stürzten sich alle auf die Göttin, deren Miene ernster wurde. Sie hob das Kinn und bewegte sich keinen Schritt.
Was ich beobachtete, war ein Schauspiel der Macht, die sie besaß, von der sich keiner vorstellen konnte, wie groß sie war.
Als der erste Angreifer bei ihr war und Zentimeter fehlten, bis er sie berührte, breitete sie blitzschnell ihre Arme aus und eine Druckwelle entstand. Diese fegte durch den Saal und riss jeden einzelnen Dämon von den Füßen. Die Welle wirbelte den Staub auf dem Boden auf, welcher mir in die Augen flog. Ein Windstoß traf mich, kalt und warm zugleich.
Mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Doch Luzifer schien das nicht zu beirren. Hier unten waren die Dämonen nutzlos. Sie hatten nicht ihre volle Engelsstärke und konnten einer Göttin nicht entgegenhalten.
„Ich pflege es, meine Worte nur einmal zu sagen", sagte sie, mit einer so ruhigen Stimme, als wäre soeben nichts passiert.
„Spar' dir deine Worte, ich werde euch alle töten!"
Dann setzte er das Fläschchen an seine Lippen an und wollte die Flüssigkeit, die sich darin gesammelt hatte, in sich aufnehmen.
Doch nun schoss ein heller Lichtstrahl direkt auf ihn zu und schleuderte ihm das kleine Gefäß aus der Hand, welches auf die Fliesen fiel und in viele Teile zersplitterte.
„Neeeeein!", klagte der gefürchtete Dämon und schüttelte sich die Hand, welche er sich dadurch verbrannt hatte. Dann fiel er auf die Knie und hielt die Einzelteile in der Hand, die von der heiligen Flüssigkeit nur noch befleckt waren. Der Rest versickerte langsam in den Ritzen der Fliesen.
„Du verdammte Gottesschlampe!", schrie er und in seinen Augen loderte das schwarze triefende Feuer, das auch in seinem Herzen herrschte. Er rannte auf sie zu, mit wildem Geschrei, voller Zorn und Entschlossenheit.
Doch die Göttin der Morgenröte hatte von Anfang an einen Plan für den gefallenen Engel, welcher im Himmel für immer unerwünscht sein würde.
So schnell, wie der Kampf begann, als er bei ihr angekommen war, genauso schnell war er auch schon wieder zu Ende.
Aurora holte im letzten Moment einen Dolch heraus, der genauso ein Griffstück hatte, wie der von Luzifer. In diesem schwamm ebenfalls eine Flüssigkeit, die mit der Klinge in sein Herz stach.
Der dunkle Engel, sah die Göttin der Morgenröte mit weit aufgerissenen Augen an und atmete unkontrolliert und schwer. Auf seinen Lippen bildete sich Blut und gleichzeitig in mir eine Genugtuung.
Genauso hatte er meine Aurora umgebracht und jetzt zahlte er dafür.
Luzifer verlor die Kraft in seinem Körper, seine Beine fingen an, zu zittern.
Die Frau sah ihn mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an und hielt sein ganzes Gewicht mit einer Hand, das auf dem Dolch hing.
„Alle Götter dieser Welt gaben mir mit diesem Dolch die Kraft, dich zu töten. Du hast viel zu lange Ärger gemacht, Luzifer. Dies hat nun ein Ende und nie wieder wirst du deinen Schatten über jemanden werfen."
Nach ihren Worten zeichneten sich die triefenden schwarzen Flügel des Engels der Dunkelheit an seinem Rücken ab. Große Schwingen, die jetzt langsam, wie Nebel in der Luft verflogen und verloren gingen.
Und nun hauchte der Erzengel seinen letzten Atemzug, mit dem Dolch in seinem Herzen, getränkt mit der Macht der Götter.

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SCHUTZENGEL
Romance~Dann drehte er sich um und ich sah direkt in seine Augen, deren Bernsteinfarben mich in ihren Bann zogen. Sein schwarzes Haar lag ihm ein bisschen in der Stirn. Er beugte sich zu mir und ich konnte seinen wunderbaren Duft riechen, sodass meine Knie...