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A U R O R A

„Wie wirst du mich töten?", fragte ich, um die Stille zu überbrücken, die sich in die dunkle kalte Halle gelegt hatte. Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen, aber vielleicht wollte ich auch versuchen, die Zeit ein wenig hinauszuzögern. Wer weiß, wie lange mir überhaupt noch blieb, bis ich aufhören musste zu atmen, nur damit der gefallene Engel zurück in seinen Himmel konnte.
„Ich werde dir mit diesem schönen Dolch in dein wunderschönes schlagendes Herz stechen. Du wirst fast gar nichts merken, es wird ganz schnell gehen. Und, wenn sich dein Herz um diesen besonderen Dolch schließt, ist unser aller Neuanfang im Himmel besiegelt und wir werden unseren rechtmäßigen Platz wieder einnehmen können."
Ich versuchte meine Tränen zu unterdrücken und nicht an meine Familie und Freunde zu denken. Das machte die Situation nur noch komplizierter. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es war, zu sterben.
„Was ist an diesem Dolch besonders?"
„Gut, dass du das fragst. Ich liebe Geschichtsstunden. Ich habe mich schon gefragt, wann ich dir darüber erzählen darf und ich habe auch sehr lange auf diesen Moment gewartet", er lachte und strich sich mit einer Hand eine dunkle Strähne aus seiner Stirn, als würde sie bei seinen Erzählungen stören, „Dieser Dolch nimmt deine engelsgleiche Energie in sich auf und speichert sie in diesem kleinen Gefäß, dass sich in dem Griffstück befindet."
Luzifer kam näher und zeigte mir den Dolch, der mich in den nächsten Minuten töten wird. Das Griffstück war schön verziert, mit pflanzenartigen goldenen Schlingen, die das Gefäß, von dem er sprach, zu beschützen schienen.
„Warum sollte ich dann zuerst verbrennen?", fragte ich und versuchte das Gespräch mit diesem Psychopathen aufrecht zu erhalten. Vielleicht würde Finn ja doch noch erscheinen. Einen kleinen Hoffnungsschimmer hatte ich noch. Egal, was mit ihm passiert zu sein schien, ein kleiner Teil von mit glaubte immer noch daran, dass er mich retten würde.
„Oh, ich hätte gewartet, bis der Rauch seine Sache erledigt hat und du nicht mehr geatmet hättest. Dann hätte ich dich herausgeholt und den Dolch in dein Herz gesteckt, um deine Energie aufzusammeln. Aber dein dummer Schutzengel war schneller und hat dich natürlich gerettet."
Plötzlich gingen die zwei großen Flügeltüren auf und vier weitere Leute kamen herein. Darunter diesmal auch eine Frau. Sie hatte kurzes fransiges Haar und musterte mich abwertend.
„Das ist sie also", schrie sie durch die Halle und kam auf Luzifer zu, zog ihn an seinem Kragen zu sich herunter und küsste ihn. Ich wendete schnell meinen Blick ab.
Sie kam zu mir und hob mit ihren Fingern mein Kinn, sodass ich sie ansehen musste. Ihre Augen waren tief schwarz geschminkt und ließen ihre fast schwarzen Pupillen düster wirken.
„Ich habe deinen Freund aufgehalten", grinste sie und streichelte mir mit ihren Nägeln über die Wange.
„Was hast du mit ihm gemacht?", fauchte ich und zerrte an meinen Ketten.
„Sie ist wild, das gefällt mir. Zu schade, dass wir dich töten müssen." Sie machte auf ihrem Absatz kehrt und wendete sich wieder Luzifer zu.
„Der Engel ist verhindert. Ich habe dir genug Zeit verschafft. Ich weiß nicht, wie lange wir noch haben, aber du kannst langsam anfangen, ihm es ein wenig ungemütlich zu machen."
„Gut, holen wir den Bursche doch mal her." Luzifer küsste die Frau ein letztes Mal, bevor sie sich entfernte, um aus der Ferne zuzusehen. Dann trat er näher an mich heran. Er strich mir meine Haare hinter mein Ohr und ich zuckte vor seiner Berührung zurück. Ich hasste es, wie er mich berührte. Sein Gesicht kam näher und war jetzt direkt an meinem Ohr. Ich spürte seinen Atem und ich zitterte augenblicklich. Meine Atmung ging schneller und mir wurde ganz kalt in seiner Nähe.
„Dein Freund soll das Ganze hier doch auf keinen Fall verpassen", hauchte er, „Er hat sich so viel Mühe gegeben, dich zu beschützen, da wollen wir ihm jetzt nicht die Show stehlen."
Und dann nahm Luzifer seinen Dolch in die Hand und schnitt in meinen Oberarm. Das Blut tränkte sofort den dünnen Ärmel meines Oberteils. Ich schrie auf und es war das einzige Geräusch, was an den Wänden widerhallte. Ich spürte den pochenden Schmerz. Der nächste Schnitt ging über meinen Bauch und wieder schrie ich. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Jetzt flehte ich Finn im Stillen an, dass er einfach hier auftauchen und mich hier rausholen würde.
Die Klinge streifte über meinen Oberschenkel und setzte auch da einen Schnitt in meine Haut. Ich sackte zusammen und hing in den Ketten, die sich zusätzlich in meine Handgelenke schnitten. Ich konnte nicht mehr, doch ich zwang mich, auf den Beinen zu stehen. Luzifer sollte nicht sehen, wie schwach ich war. Ich habe gerade erfahren, dass ich eine Halbgöttin war, also sollte ich mich auch wie eine verhalten.
Ich richtete mich auf und sah dem gefallenen Engel direkt in die Augen. Luzifer grinste nur noch mehr und schnitt diesmal in meine linke Schulter. Es tat höllisch weh. Wieder zwang mich der Schmerz in die Knie und ich hing wie ein Häufchen Elend in den Ketten. Aber erneut richtete mich auf und schluckte den Schmerz herunter. Ich hob meinen Kopf und suchte den siegessicheren Blick von Luzifer. Meine Wunden brannten und pulsierten. Das Blut drängte meine Kleidung und bildete große Flecken.
Vor meinem inneren Auge tauchte ein Gesicht auf, nach dessen ich mich so sehr sehnte. Ich sehnte mich nach ihm, nach seinem Körper, nach seiner Nähe. Jetzt gerade würde ich alles vergessen, was passiert war. Ich wollte einfach bei ihm sein und ihn ein letztes Mal spüren. Ich sah seine bernsteinfarbenen Augen vor mir. Sah, wie eine dunkle Strähne sich, wie immer, in seine Stirn verirrte. Sah sein wunderschönes Lächeln und wünschte, er würde mich noch einmal so anlächeln.
Luzifer setzte weitere kleine Schnitte auf meinen Körper. Aber ich blendete sie aus. Finn's Gestalt vor mir, seine Augen, die mich intensiv anschauten, nahmen mir ein Teil von dem unaufhörlichen Schmerz.
Doch dann hörte ich einen lauten Knall und Luzifer drehte sich erschrocken in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Alle Augen waren auf die Flügeltüren gerichtet, die fast aus ihren Angeln fielen. Die großen Türen wackelten bedrohlich, von draußen kam ein kalter stürmischer Wind herein. Blitze zuckten über den gähnenden schwarzen Nachthimmel. Der Donner heulte hinter ihnen her und ließ die Fenster erzittern.
„Lasst' sie in Ruhe!", ertönte eine vertraute Stimme durch die große Halle und mir wurde warm in der Brust.
Ich hob langsam meinen Kopf und da sah ich ihn.
Finn stand breitbeinig im großen Rahmen der Tür. Seine Haare waren nass, das Wasser perlte an seinen Strähnen herunter. Sein Blick war düster auf Luzifer gerichtet. Sein ganzer Körper bebte vor Wut und seine Atmung ging schnell. Er ballte die Fäuste, als er sah, was der gefallene Engel mit mir angerichtet hatte. Seine Augen musterten mich und sie wurden groß.
Ich wusste, dass er auch von Weitem das Blut sah und ich wusste auch, dass er sich mit allen Mitteln beherrschen musste, jetzt nicht einfach zu mir zu gehen. Hier waren zu viele Männer, die ihn überwältigen könnten. Wer weiß, was sie für Kräfte besaßen, in der verrückten Welt, in der wir uns befanden.
Doch ich war einfach froh, dass er hier war, unverletzt und noch am Leben. Ich genoss seinen Anblick, sog nochmal alles in mich auf. Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich ihn sah. Für einen kurzen Moment der Ruhe blendete ich alles andere aus und genoss seine Augen auf mir und, wie sein Körper sich bewegte. Ich wollte mir alles an ihm einprägen, bevor Luzifer mir den Todesstoß geben würde.

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