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F I N N

Es tat weh, dass sie mir ins Gesicht sagen konnte, dass ich gehen sollte. Warum war das so einfach für sie. Waren ihre Gefühle für mich schon gegangen?
Ich drehte mich um und entfernte mich von ihr. Bei jedem Schritt, der mich weiter von ihr distanzierte, bröckelte ein Stück meines Herzens.
Ich spürte ihre gemischten Gefühle. Sie wollte bei mir sein, aber sie konnte nicht. Ich hasste es, dass Aurora so hin und her gerissen war. Das sollte ihr nicht so schwer fallen, aber ich hatte alles zum Einsturz gebracht. Die Verbindung, die wir uns aufgebaut hatten, war mit dem, was ich nun mal war, ein Stück gerissen. Ich wusste nicht, wie ich das wieder hinbekommen wollte. Sie wollte mich nicht sehen und ich konnte sie auch nicht dazu zwingen.
„Es ist besser so", sagte Sophie, die plötzlich neben mir stand und mich am Arm streichelte. Ihr besorgter Blick musterte mich und versuchte mich aufzumuntern. Doch ich hatte das Gefühl, nichts konnte mich mehr aufmuntern.
Nicht nachdem Aurora mich verlassen hatte.
Ich hatte noch nie so gefühlt, wie ich es für sie tat. Ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich wollte sie lieben, so wie sie es verdient hatte, geliebt zu werden. Sie hätte niemals wegen mir weinen dürfen. Würden wir beide ein normales Leben führen und stünde das alles, was passiert war, nicht zwischen uns, würde ich sie immer glücklich machen.
Sie war besonders, ein herzensguter Mensch und sie war es wert, dass man für sie kämpfte.
„Es tut so weh", flüsterte ich und war dankbar, dass Sophie trotzdem bei mir war, obwohl ich das allerhöchste Gesetz gebrochen hatte.
„Du weißt, dass es nicht richtig ist, was ihr füreinander fühlt. Ihr seid aus verschiedenen Welten."
„Nicht nachdem, was wir herausgefunden haben. Vielleicht sind wir nicht aus unterschiedlichen Welten, sondern gehören zu ein und derselben. Aber sie muss das verstehen."
„Wir wissen nicht, ob es stimmt"; rief mir Sophie ins Gedächtnis. Sie hatte Recht, viel wussten wir wirklich nicht. Es waren nur weit hergeholte Spekulationen. Aber was war, wenn das alles stimmte?
Plötzlich durchfuhr mich ein Gefühl, das mich von innen heraus zu verbrennen drohte. Das einzige Gefühl, dass ich nie von Aurora spüren wollte.
Sie hatte Angst.
„Ich muss zu ihr", raunte ich und rannte in die Richtung, in der das Gefühl stärker wurde.
„Was ist? Wo willst du hin?", hörte ich Sophie hinter mir, aber ich drehte mich nicht um. Aurora war alles, was jetzt zählte. Sie war in Gefahr, denn ihre Angst und ihr Misstrauen wurden immer stärker.
Doch dann verloren meine Füße den Halt und ich krachte schmerzlich gegen einen Baum. Ich sprang auf und drehte mich zu der Wucht, die mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
Ich ballte meine Fäuste und bekam Wut. Niemand hielt einen Schutzengel davon ab, seinen Schützling zu retten. Ich hatte die Lichtung verlassen, doch ich war dabei sichtlich nicht allein gewesen. Aus dem Schatten der Kiefern traten fünf Personen, davon eine Frau, die mich siegessicher anfunkelte.
„Du wirst nirgendwo hingehen", sagte ein hochgewachsener Mann mit einem dichten Bart.
Sie umkreisten mich und ich hatte keine Wahl, ich musste kämpfen. Anders würde ich hier nicht herauskommen.
Aurora's Gefühle überschlugen sich in meiner Brust und vermischten sich mit meinem Adrenalin und meinen Engelsgaben.
Die Angreifer kamen nacheinander auf mich zu. Ich ballte meine gesamte Kraft und stieß dem ersten Mann in die Brust, sodass er gegen einen Zweiten prallte und sie zu Boden gingen. Ich wich Fäusten aus, bewegte mich schnell und landete Treffer in den Gesichtern meines Gegenübers.
Doch dann packte jemand meinen Arm. Noch während ich mich aus dem Griff zu befreien versuchte, hielt jemand meinen anderen Arm und der Mann neben mir, trat mir schmerzhaft in die Kniekehlen.
Ehe ich mich versah, stand die Frau hinter mir und rammte mir einen Ast in den Rücken. Ich schrie und hörte auf, mich zu wehren.
Der Schmerz durchzuckte jede Faser meines Körpers, während sich der Ast in meinen Brustkorb bohrte und dort stecken blieb. Aurora's Gefühle verschwammen, mein eigener Schmerz überflutete jegliches Zeichen von ihr.
Ich spürte, wie das Blut aus meinem Rücken floss und, wie mein Körper versuchte zu heilen. Doch das Holz ließ keine Heilung zu. Nicht, so lange es noch wie ein Dolch in mir steckte.
Ich biss meine Zähne aufeinander und unterdrückte Tränen. Ich war wie gelähmt und ging zu Boden.
Zwei hohe Stiefel stellten sich vor mich in den Dreck und die Frau beugte sich zu mir herunter.
Mir ihren spitzen Nägeln, zog sie meinen Kopf unsanft an meinen Haaren hoch, sodass ich sie einigermaßen sah.
Sie war stark geschminkt und kaute ekelhaft auf einem Kaugummi herum. Sie hatte kurz geschnittenes Haar, das nur bis auf Höhe ihres Kinns reichte und ab da fransig vom Kopf abstand.
„Du musst entschuldigen, Süßer. Aber du machst dir auch selbst das Leben schwer", lachte sie, „Aurora gehört nun mal uns und du wirst uns nicht daran hindern, sie zu töten."
Sie stieß meinen Kopf auf den harten Waldboden und die Gruppe verschwand in der Dunkelheit.
Ich amtete schnell. Jetzt kroch mir meine eigene Angst an den Kragen. Aurora war in Gefahr und ich war absolut nicht in der Lage, ihr zu helfen.
Ich lag einsam im Wald, mein Körper versuchte zu heilen, aber er schaffte es nicht. Es dauerte sicherlich nicht mehr lange, dann würde auch meine Kraft zu Ende sein.
Auch ein Schutzengel hatte nicht das Privileg, unsterblich zu sein. +
Doch ich würde hier jämmerlich zu Grunde gehen, ohne dass ich auch nur ansatzweise für sie gestorben war.
Ich hatte mich besiegen lassen und nun hatten sie Aurora. Mit einem letzten Versuch, versuchte ich den Stock aus meinem Rücken zu ziehen, sodass meine Wundheilung arbeiten konnte, aber ich kam einfach nicht heran.
Zum Glück hatten sie mein Herz verfehlt. Ein paar Zentimeter weiter links und ich wäre sofort tot gewesen.
Langsam hatte ich das Gefühl, in meinem Kopf drehte es sich und der Sauerstoff wurde knapp. Meine Lunge war verletzt und sie würde nicht mehr lange mitmachen. Ich versuchte, nach Hilfe zu rufen, aber es kam nichts über meine Lippen. Egal, wie sehr ich es versuchte.
Ich hatte keine Kraft mehr.
„Oh mein Gott, Finn!", Sophie kam auf mich zugerannt und ließ sich neben mir auf den Boden fallen. Ihre Augen sahen ängstlich auf mich herab und sie bewegte sich unruhig neben mir.
„Zieh' mir bitte diesen Ast aus meinem Rücken... Ich k-kann nicht heilen...", presste ich hervor.
„Okay, okay", murmelte sie hektisch und strich sich die blonden Locken hinters Ohr.

Sophie packte den Ast mit beiden Händen und zog mit aller Kraft daran. Ich musste aufschreien, als sich das Ding in meinem Rücken zu bewegen anfing.
Doch als das Holz den letzten Widerstand bezwang und endlich draußen war, konnte ich wieder besser atmen und mein Körper konnte nun endlich heilen. Außer Atem richtete ich mich auf die Knie auf und lauschte sofort nach irgendwelchen Anzeichen von Aurora.
Doch da war nichts. Das einzige, was ich spürte, war Leere.
Eine gähnende Leere, die ich niemals erleben wollte.
Ich konnte sie nicht spüren, sie schenkte mir nicht eins ihrer Gefühle und ich bekam Panik. Mein Herz schlug schneller und das Blut pochte mir in den Ohren. Ich hatte so viel Angst um sie, wie noch nie.
Ich hatte sie aus dem brennenden Café gerettet. Ich hatte sie aus dem Wasser gezogen, als unser Auto in den Fluss gestürzt war. Ich konnte sie einfach immer beschützen.
Doch nun war sie nicht bei mir. Ich wusste nicht, wo sie war oder was mit ihr passiert war.
Ich wusste nur, dass Luzifer es nun geschafft hatte, sie zu fangen.
„Was ist passiert?", fragte mich Sophie, während ich schnell versuchte zu Atem zu kommen und mich zu regenerieren.
Das durfte einfach nicht passiert sein. Sie durften Aurora verdammt noch mal nicht geschnappt haben!
„Sie haben sie", seufzte ich und nun wurde es mir schmerzlich nochmal bewusst.
„Wer hat sie?", fragte Sophie und sah mich mit großen Augen an, die zu verstehen versuchten, was hier gerade vor sich ging.
„Ich wurde angegriffen. Sie sagten, sie würden Aurora töten. Dahinter steckt Luzifer! Ich muss sie finden, aber ich kann sie nicht spüren!"
Vor Wut sprang ich auf, spürte den stechenden Schmerz in meinem Rücken und schlug gegen den Baumstamm.
„Sie ist vielleicht ohnmächtig, deswegen kannst du sie nicht spüren", spekulierte Sophie und stand auch wieder auf.
„Oder sie ist bereits tot!", schrie ich und verlor die Fassung. Ich durfte sie nicht verlieren. Das würde mich von innen zerreißen und es wäre nicht mehr zu reparieren. Ich wäre nicht mehr zu reparieren.
Ich wäre ein kaputter Engel, so wie es mein Vater einst gewesen war und noch viel mehr.
Sophie's Hände fassten mein Gesicht und sie zwang mich somit, sie anzusehen.
„Hör' mir zu! Sie ist nicht tot, okay? Sie wird ohnmächtig sein! Reiß dich zusammen und konzentriere dich jetzt!"
Ich hörte auf sie, schloss die Augen und lauschte in mich hinein. Um uns war es ruhig, der Wald schlief, der Wind hatte nachgelassen. Die Blätter raschelten nicht, es herrschte eine Totenstille. Als würde die Natur mir die Zeit geben, mich nur auf Aurora zu konzentrieren. Sobald sie aufwachte, gab sie mir irgendein Zeichen. Irgendetwas reichte mir schon aus und ich konnte sie finden.
Ich atmete tief ein und aus und wartete auf mein Signal, auf das einzige Signal, das jetzt wichtig war.
Ich wusste nicht, wie viele Minuten schon vergangen waren, doch langsam wurde ich unruhig. Ich spürte sie immer noch nicht.
Nicht mal ein bisschen. Es war, als wäre sie nie da gewesen. Als hätte es sie nie gegeben. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, sie so nah bei mir zu haben, dass ihre Abwesenheit nur noch mehr schmerzte.
Sophie stand vor mir und gab keinen Laut von sich.
Meine Kehle schnürte sich zusammen, mein Bauch krampfte. Ich spürte sie einfach nicht. Kein Gefühl von ihr flutete meine Sinne. Mir wurde kalt und mein Herz blieb fast stehen. Ich hatte Angst um sie. Große Angst, die sich immer weiter aufbäumte.
Eine Träne verließ meine Augen und kullerte langsam meine Wange hinab.
Kurz bevor ich aufgeben wollte, zuckte ein Gefühl durch meine Adern und ich wusste sofort, dass es nicht von mir kam.
Aurora.
Sie war am Leben.
Ich atmete erleichtert aus und mir viel ein kleiner Stein vom Herzen. Ich hatte trotzdem noch Angst und war beunruhigt, schließlich hielt ich sie noch nicht in meinen Armen.
Aber ich wusste zumindest, dass sie lebte.
Ich öffnete die Augen und sah Sophie an, die auf eine Reaktion wartete.
„Ich muss sie finden", sagte ich und breitete meine Schwingen aus. Sie fühlten sich stärker an, als je zuvor.
„Warte, wo ist sie?"
Doch ich hörte ihr Worte nur aus der Ferne, denn ich hatte mich schon vom Boden abgestoßen und war in den Nachthimmel entflohen, um Aurora zu finden.

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