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F I N N

So schnell, wie der gefallene Engel, den es schon seit Jahrhunderten gab, in unser Leben getreten war, so schnell war er auch wieder verschwunden.
Die Göttin der Morgenröte hatte ihn getötet und ließ ihn jetzt zu Boden sinken.
Nachdem sie seine Augen mit einer sanften Handbewegung für immer geschlossen hatte, stand sie wieder auf und blickte in die sie umgebenden Gesichter.
Angsterfüllte, staunende und auch sprachlose Ausdrücke wurden ihr zugeworfen. Auch ich konnte selbst noch nicht glauben, was soeben geschehen war.
„Luzifer - der Engel, der zum Dämon wurde. Das Licht, das zu einem grausamen Schatten wurde. Sein Leben hat nun ein Ende. Einst war er ein angesehenes Wesen in unserer Welt, doch er wollte zu viel und strebte zu schnell. Seine Machtgier hatte ihn aufgefressen und letztendlich hat sie ihm sein Leben gekostet. Er wird nie wieder einen Krieg beginnen. Seine Tage sind nun vorbei. Den Anhängern Luzifers rate ich, nicht den gleichen Fehler zu begehen. Dies wird genauso enden, die Götter lassen sich von niemandem ihren Platz wegnehmen. Zeigt uns den nötigen Respekt, alles andere ist zwecklos."
Die Dämonen, die sich hinter Luzifers Schwingen versteckt hatten und seine Ziele verfolgten sahen sich unschlüssig und unsicher an.
Sie wussten, dass sie keine Chance gegen die Göttin hatten und wurden sich einig.
Mit der Zeit ging einer nach dem anderen runter auf die Knie und senkte den Kopf. Auch Sean, der bis zum Schluss wartete, beugte sich letztendlich dieser ungeheuren Macht, gegen die er nichts ausrichten konnte.
Seine Augen lagen auf mir und seine Miene verriet mir jedoch, dass er nichts dergleichen wollte. Eine kleine Genugtuung tat sich in meinem Inneren auf. Soll er sich beugen, wie ein kleiner Welpe. Verdient hatte er es.
Ich sah es mir nicht länger mit an.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf Aurora, die immer noch in meinen Armen lag, als würde sie nur friedlich schlafen. Wenn es doch nur so wäre. Ihre Augen waren geschlossen.
Erneut verlor ich Tränen und ich hatte das Gefühl, das würde auch niemals aufhören. Der Schmerz würde immer auf mir lasten und nie leichter werden. Was sollte ich jetzt nur tun?
Keine Ahnung, wie lange sie schon tot war und ich sie hielt. Ich wollte sie nie wieder loslassen. Ich wollte hier einfach mit ihr liegenbleiben.
Innerlich hoffte ich, dass sie einfach ihre Augen öffnen würde. Ihr wunderschönes Rehbraun würde mich ansehen und mein Herz wärmen. Ihre Lippen würden sich bewegen und mir flüstern, wie sehr sie mich liebte und, wie sehr sie mit mir zusammen sein wollte.
Und es tat weh, dass ich das ihr nicht öfter gesagt hatte. Es war nicht genug gewesen, es nur einmal zu sagen. Sie hatte diese Worte jeden Tag verdient.
Doch nun war es zu spät. Nichts davon würde sie von mir hören. Diese Chance war nun vorbei.
Ohne, dass ich es kontrollieren konnte, sprach ich zu ihr. Ich hatte das Bedürfnis, ihr noch etwas zu sagen, bevor ich sie nie wiedersehen würde.
„Du darfst mich nicht verlassen", schluchzte ich in mich hinein und meine Stimme schaffte es kaum, Töne von sich zu geben, „Ich brauche dich. Als ich dich kennenlernte, wusste ich genau, dass es mir verboten war, eine Verbindung mit dir aufzubauen. Doch ich konnte nicht anders, ich musste wissen, wer du warst. Ich weiß, dass ich dich immer von mir gestoßen habe und das tut mir leid."
Mit meinen Fingern suchte ich eine Strähne in ihrem noch glänzenden Haar und umwickelte meinen Zeigefinger damit.
„Du hast mir den Kopf verdreht Aurora Anderson und ich habe mich verdammt nochmal in dich verliebt."
Ich konnte meine Tränen nicht kontrollieren und weinte so, wie ich es das letzte Mal bei dem Tod meines Vaters getan hatte.
Ich spürte eine Hand an meiner Schulter und merkte, dass Sophie sich zu mir gesellte und mich in den Arm nahm.
„Es tut mir so leid, dass wir sie nicht retten konnten", flüsterte sie und hielt ihre Stirn an meinen Kopf. Ihre Nähe tat gut, doch sie gab mir Aurora nicht zurück.
Nichts würde sie zurückbringen. Für immer musste ich nun ohne sie leben. Dabei hatte unsere gemeinsame Zeit noch nicht mal richtig angefangen.
Ich sah das weiße Kleid nun vor mir schimmern und blickte zu der schönen Göttin hinauf, die mich mit liebevollen Augen ansah.
Dann kniete sie sich zu mir herab und sah zu Aurora hinunter. Ihre Hand legte sie vorsichtig auf Aurora's Wange, die mittlerweile so erschreckend kalt geworden war.
„Niemand vergreift sich an meinen Kindern", sagte sie mit ruhiger Stimme.
Ihr Duft umhüllte mich und war so rein, dass man ein Gefühl für ihre wunderbare Seele bekam.
„Sie hat es nicht verdient, dass ihr Leben schon vorbei ist. Das kann ich noch nicht zulassen. Sie ist besonders, ganz anders als all meine anderen Kinder", sie seufzte und sah auf den Dolch, der auf dem Boden lag, „Luzifer hat überhaupt keine Vorstellung von ihrer Macht gehabt. Dieses kleine Gefäß verkörpert rein gar nichts, von dem was sie noch besitzt."
Ich sog ihre Worte in mir auf und versuchte, sie zu verstehen. Mein Herz schlug schneller. Aurora war womöglich viel mächtiger gewesen, als wir dachten, nachdem wir etwas über ihr wahres Ich herausgefunden hatten.
Die Göttin sah mich an.
„Du warst ihr ein sehr guter Schutzengel, Finn." Sie lächelte warm und herzlich.
„Das war ich nicht", gab ich von mir, „Ich habe sie nicht retten können."
Immer wieder, wenn ich darüber nachdachte, krampfte mein Magen und mir wurde immer wieder schmerzlich bewusst, wie sehr ich versagt hatte.
Doch dann sagte sie etwas, was mich hellhörig machte und einen kleinen Schimmer von Hoffnung in mir weckte.
„Du kannst sie immer noch retten."
„Wie?", fragte ich schnell und wollte keine Zeit verlieren. Ich sah zu Sophie, die mich überrascht ansah und sich ihre Tränen wegwischte.
„Ich bin die Göttin der Morgenröte. Ich kann ihr einen Neuanfang geben. Doch, wie alles in der Natur, hat dies seinen Preis. Es muss ein Gleichgewicht herrschen und jemanden ins Leben zurückzuholen bedarf einen hohen Preis."
„Ich tue alles, was du verlangst. Ich möchte sie retten. Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben kann." Mein Herz bebte und drohte, mich gleich von innen zu zerreißen. Wenn ich sie retten konnte, dann war mir jeder Preis egal, den ich dafür zahlen musste. Hauptsache Aurora war am Leben.
„Ich habe die Gabe, zu heilen. Aber ich brauche deine Engelsmacht, um ihr Herz wieder schlagen zu lassen. Ich habe das noch nie gemacht, aber ich denke, dass es funktionieren wird. Der Zusammenschluss einer Göttin und eines Engels ist sehr mächtig. Doch, wie ich schon sagte, dies verlangt auch etwas."
Die Göttin der Morgenröte sah mich mitleidig an und ich ahnte, dass es sicherlich mit mir zu tun hatte.
„Was ist es?", fragte ich etwas zögerlich, aber dennoch entschlossen.
„Du wirst danach deine Kräfte verlieren. Du wirst danach kein Schutzengel mehr sein."
Ich schnappte nach Luft und merkte, dass es jeder andere aus dem Institut gerade auch tat.
Ich sah zu Elijah herüber, der mit verschränkten Armen weiter weg im Saal stand und das Geschehen beobachtete, wie so viele andere.
Seine Kiefermuskeln mahlten, doch dann nickte er.
In mir entstand ein Gefühlschaos, dass ich vorerst nicht ordnen konnte. Ich war schon immer ein Schutzengel gewesen. Ein anderes Leben hatte es für mich nie gegeben.
Ich war im Institut aufgewachsen und wollte schon immer in die Fußstapfen meines Vaters treten. Ich wollte so sein, wie er. Ein guter Schutzengel, der seinen Schützling mit allen Mitteln beschützte.
Nun würde das alles enden?
Es tat weh, dieses Leben aufgegeben zu müssen, das ich seit meiner Geburt kannte. Doch das musste sich jetzt ändern. Ich musste das tun - für Aurora.
Ich würde ein normaler Mensch sein. Wir könnten von vorn anfangen, ganz normal und ein ganz normales Leben miteinander führen.
Diese Vorstellung, mit Aurora ein Leben aufzubauen, durchzuckte meine Adern und durchflutete meine Gedanken mit schönen Bildern.
„Ich werde es tun", kam es selbstsicher über meine Lippen. Ich wusste, was das bedeutete. Ich würde zu einem Menschen werden, ohne Flügel, ohne die Schnelligkeit und die Stärke eines Engels. Ich werde nicht mehr Aurora's Gefühle, Gedanken und Empfinden spüren. Ich werde auch im Institut nicht mehr gebraucht. Ich werde anders sein, als meine Freunde. Sie würden genauso weitermachen, wie zuvor. Sie werden alle ihre Schützlinge haben und ihren Job erledigen und ich würde ein ganz normales menschliches Leben führen.
Dies wird eine große Umstellung, doch ich werde das für Aurora schaffen.
„Fangen wir an", sagte ich und konnte es kaum erwarten, in die Augen der jungen Frau, welche in meinen Armen lag, zu sehen.
Die Göttin der Morgenröte nickte. Draußen wurde es langsam immer heller und der Tag brach schon fast an. Wir befanden uns immer noch im Übergang und dieser Übergang von Nacht zu Tag würde hoffentlich der Neuanfang für Aurora sein.
Ich wischte meine Tränen weg und folgte ihren Anweisungen.
„Ich werde jetzt meine Hand auf dein Herz und auf ihr Herz legen. Somit schaffe ich eine Verbindung und werde deine Kräfte nutzen. Das könnte schmerzhaft werden, aber wir dürfen dies auf keinen Fall unterbrechen, sonst werden wir sie für immer verlieren."
Ich nickte und gab ihr zu verstehen, dass ich alles verstanden hatte und alles aushalten würde, was auf mich zukam.
Dann legte die Göttin ihre Hände auf unsere Herzen und schloss die Augen.
Ein leichter kühler Luftzug durchfegte den Saal und strich mir durchs Haar.
Ich atmete tief ein und aus und bereitete mich innerlich darauf vor, was jetzt kommen würde. Die Göttin öffnete ihre Augen wieder und ich sah, dass sie sich in ein strahlendes Gold verwandelt hatten. Der Wind wurde stärker und wirbelte um uns herum den Staub auf.
Und dann fing es an.
Jede Faser meines Körpers fing an, an mir zu zerren. Als würde mir die Lebensenergie geraubt werden, wurde ich von Sekunde zu Sekunde schwächer. Mein Atem ging schnell und bebend. Ich hatte Angst, kniff die Augen zusammen und biss mir auf die Zähne. Die Göttin sagte Worte, die ich nicht verstand. Doch es klang wie ein Ritual, dass wir vollzogen. Mein schmerzerfüllter Blick fiel auf Aurora, die ich immer noch, so gut es ging, in meinen Armen hielt. Doch ich würde auch jetzt nicht loslassen.
Die Schmerzen in mir verstärkten sich und krochen in jeden Zentimeter meines Knochens.
Unter Aurora's Haut zeigte sich immer mal ein kleiner Funken von Licht, der durch ihren Körper wanderte.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war und, wie lange wir jetzt hier schon so saßen. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu beruhigen und an Aurora zu denken. Wir würden sie retten. Sie wird wieder leben.

***

Nach unbestimmter Zeit öffnete ich meine Augen wieder. Die Schmerzen waren vorbei, mein Körper fing an, sich zu erholen. Mein Bein, indem der Holzpfahl gesteckt hatte, machte sich sofort bemerkbar.
Es war zwar schon, dank meiner Engelskräfte verheilt, jedoch spürte ich einen nachträglichen Schmerz.
Das war anders. Das war noch nie so gewesen und nun wusste ich, mein Leben hatte sich von einen auf den anderen Moment schlagartig verändert.
Sophie kam näher gerutscht und holte eine Nadel aus ihrem Haar, die sie immer bei sich trug.
Mit der Spitze fuhr sie über meinen Unterarm und hinterließ einen kleinen Schnitt. Beide schauten wir herab und warteten, was passierte.
Und es passierte nichts.
Mein Körper heilte nicht mehr.
Ich hatte meine Engelskraft tatsächlich verloren.
Sophie sah mich erschrocken und traurig zugleich an und umarmte mich.
„Ich hätte nie gedacht, dass das mal passieren würde", weinte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Nun bin ich keiner mehr von euch", flüsterte ich und konnte es selbst kaum glauben. Doch ich schob alles schnell beiseite und wandte mich Aurora zu.
Aber sie bewegte sich nicht.
Ihre Augen waren immer noch geschlossen, ihre Haut war noch immer kalt.
Mein Herz hörte auf, zu schlagen, mir wurde schlecht.
„Wieso wacht sie nicht auf?!"; schrie ich und sah wütend zu der Göttin, die jedoch nicht so beunruhigt aussah.
Was war, wenn es nicht funktioniert hatte. Was war, wenn sie nun doch nicht aufwachte und irgendwas schief gelaufen war? Was, wenn sie schon viel zu lange tot war oder die Morgenröte schon vorbei gewesen war?
All die Fragen zerrten an meinen Gedanken. Ich nahm ihre Hand und gab ihre einen Kuss auf den Handrücken. Ungeduldig wartete ich darauf, dass sie endlich aufwachte und mir in die Augen sah. Ich wartete darauf, dass sie endlich wieder atmete. Ich wollte ihre Stimme hören, ihr Lächeln sehen und ihre Berührungen genießen.
„Bitte wach' auf, bitte wach' auf,..." stammelte ich vor mich hin, in der Hoffnung, es würde noch irgendetwas bringen.
Der ganze Saal war ruhig, niemand rührte sich.
Alle sahen gebannt auf uns.
Niemand getraute sich zu atmen oder irgendein Geräusch zu verursachen.
Nur der Wind zischte uns um die Ohren, fegte durch die kaputten Fenster und kitzelte Aurora's blasse Haut.
Ich ließ sie keinen Moment lang aus den Augen und es dauerte mir viel zu lange.
Doch die Göttin der Morgenröte ließ sich immer noch kein bisschen verunsichern. Sie wartete geduldig, als schien sie genau zu wissen, was passierte.
Und dann spürte ich sie.
Ihre Hand, die ich in meiner hielt, zuckte für einen kurzen Augenblick.
Mit großen Augen starrte ich Aurora an. Mir wurde ganz schwindlig vor Hoffnung.
Sie hatte sich bewegt und ein Lebenszeichen gegeben.
Alles in mir kribbelte, ich hielt den Atem an, das Blut pulsierte mir in den Ohren. Ich blendete alles um mich herum aus.
Und dann schlug sie ihre Augen auf.
Ich konnte wieder atmen, alles in mir funktionierte wieder.
Sie war am Leben.
Die Göttin der Morgenröte hatte sie mir zurückgebracht.
„Beschütze sie gut, Finn", hauchte mir die Göttin der Morgenröte entgegen und erhob sich. Dann verließ sie den Saal und verschwand aus der großen Tür, zurück in den rötlich verfärbten Himmel.
Meine Gedanken machten Luftsprünge und alle Engel um mich herum verfielen ebenfalls in Erleichterung.
Ich hatte Aurora wieder und ich wollte sie nie wieder verlieren. Ihre Atmung ging schnell und sie zappelte unruhig in meinen Armen, versuchte sich zu orientieren und zu begreifen, wo sie sich befand.
„Hey, alles gut, ich bin bei dir. Keine Angst", ich konnte meine Freudentränen nicht zurückhalten und war froh, dass sie am Leben war.
Nie wieder durfte so etwas passieren. Nie wieder würde ich sie verlieren. Noch einmal würde ich das nicht ertragen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ihre Augen gar nicht braun waren, so wie immer. Sie waren in ein leuchtendes Gold getaucht. Wie bei der Göttin, Aurora, und ich schnappte nach Luft.
Und dann sah sie mich zum ersten Mal an und ich konnte es kaum erwarten, dass sie meinen Namen sagte und mir um den Hals fiel.
Doch das passierte nicht.
Als sie ihre Worte aussprach, zerriss es mir das Herz und es zerfiel in kleine Einzelteile.
Schon wieder.
Es war, als würde ich sie gleich nochmal verlieren.
„Wer bist du?", kam es schwach über ihre Lippen und meine gerade wieder aufgebaute Welt stürzte in sich zusammen.

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