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A U R O R A

Erneut wachte ich auf und wusste jetzt schon – es war viel zu früh um aufzustehen. Mit schweren Augenlidern knietschte ich mich wieder in mein Kissen, aber keine Sekunde später klopfte es an der Tür. Eine Schwester schaute in das, schon von der Morgensonne erhellte Zimmer, und widerwillig wandte ich mich ihr zu.
„Guten Morgen, ich bringe das Frühstück. Hast du Hunger?", sie lächelte freundlich, sodass mein Morgenmuffel sich langsam wieder in meinem Inneren verkroch. Wie auf Knopfdruck kündigte sich mein Magen an. Ich hatte seit ich hier in diesem Bett lag nichts gegessen. Also schwang ich mich langsam über die Bettkante, schlüpfte in meine Schuhe und ging zum Frühstückswagen, auf dem frische Brötchen lagen, Marmelade neben dem Käse und der Wurst sich stapelte und sich auf einem Teller saftige Melonenscheiben befanden. Ich packte meinen Teller voll und nahm mir zusätzlich noch einen Kaffee. Zurück in meinem Zimmer verschlang ich mein Frühstück regelrecht und hätte fast nicht gemerkt, was auf meinem Nachttisch stand.
Es waren Blumen, gestellt in eine Vase mit kühlem Wasser. Das Rot der Rosen leuchtete kräftig und hinterließ einen wunderschönen Anblick, dem man nicht so leicht widerstehen konnte. Wer hatte sie mir hingestellt? Alec? Das konnte nicht sein, die Besuchszeiten begannen erst in zwei Stunden. Ich suchte rundherum um den Strauß irgendwas, was einen Hinweis auf die Person gab, die wusste, dass Rosen meine Lieblingsblumen waren.
Mein Handy klingelte, der Bildschirm zeigte, dass es Alec war und ich nahm ab.
„Hey, wie geht es dir? Ich habe gehört, du darfst heute nach Hause?"
„Ja, der Arzt hat vor, mich heute zu entlassen", mein Blick war immer noch auf den Strauß gerichtet.
„Sehr gut, soll ich heute nochmal vorbeikommen? Wir können dir einen neuen Job suchen." Seine Stimme klang unsicher, da er wusste, wie sehr ich das Café geliebt hatte, aber er hatte Recht. Ich brauchte etwas Neues und er wollte bloß helfen. Also stimmte ich zu.
Nach einer kurzen Pause, fragte ich schließlich gerade heraus: „Sag mal, sind die Rosen auf meinem Tisch von dir?"
„Welche Rosen?"
„Jemand hat mir Rosen geschenkt, aber nichts hinterlassen." Kurz war es ruhig am anderen Ende der Leitung und als Alec wieder etwas sagte, hörte er sich jetzt eher angespannt an. Als wäre er damit nicht einverstanden.
„Vielleicht waren es deine Eltern?"
„Nein, meine Eltern waren gar nicht hier..."
„Da hast du wohl einen heimlichen Verehrer", überlegte Alec.
Das brauchte ich jetzt ganz und gar nicht. Nicht nach dem was passiert war. Dabei musste ich automatisch an Logan denken... An sein Lächeln, sein herzhaftes Lachen... Traurig schloss ich die Augen und versuchte mir die Tränen zu verkneifen.
„Okay, 17.00 bei mir. Du kannst gerne mit bei uns essen. Bis später", legte ich auf und hoffte, dass Alec mir nicht böse war, dass ich das Gespräch so schnell beendet hatte.
Mein Blick schweifte von den Rosen zum Fenster. Die Sonne wärmte die Dächer der schönen Häuser der Stadt und die Blätter der Bäume, die aus dem Park hervorlugten.
Es dauerte nicht lange, dann kam auch schon Dr. Smith, untersuchte mich ein letztes Mal und ließ mich endlich gehen.
Schon nach einem Tag hatte ich diese Wände satt, also packte ich mein Zeug zusammen und war dabei, das Krankenzimmer zu verlassen. Dabei viel mein Blick auf den Strauß, der in seiner Vase auf dem Tisch stand. Aber ich ließ ihn stehen und wartete vor dem großen Gebäude auf den silbernen Mercedes meiner Eltern.
***

Ich stand nicht mal zwei Schritte hinter der Schwelle, schon wurde meine Mutter wieder hysterisch, fegte wie ein Orkan durch das Haus.
„Möchtest du dich ausruhen? Soll ich dir einen Tee kochen?", fragte sie mich, während sie schon das Sofa hergerichtet und den Teekocher angeschaltet hatte. Ich hatte keine andere Wahl als mich von meiner Mutter verwöhnen zu lassen, sie würde eh nichts anderes dulden. Mein kleiner Bruder kam die Treppe heruntergerannt und fiel mir in die Arme.
„Hey Kleiner", nuschelte ich in sein wüstes braunes Haar.
„Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist", sagte Miles.
Er war neun Jahre und fing langsam an, nicht mehr auf das zu hören was seine große Schwester sagte, aber in diesen Situationen brauchte er mich dennoch mehr als seine X-Box.
„Komm her und setz' dich erst mal", meinte diesmal mein Vater, der sich selber in den Sessel setzte, „Möchtest du darüber reden was passiert ist? Es hilft dir vielleicht alles zu verarbeiten." Ich ballte meine Hände zu zwei Fäusten, mit denen ich glaubte, mich abschirmen zu können. Ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen. Es brach mir das Herz, dass dies hier alles Realität war und nichts mehr so sein würde, wie es bis vor einem Tag noch gewesen war.
„Warum ist das Feuer ausgebrochen?", hakte mein Vater, der meinen Schutzwall bemerkt hatte, vorsichtig nach. Ich atmete tief ein und sammelte all meine Energie, damit ich überhaupt ein Wort rausbekam.
„Es ging alles viel zu schnell. Die Männer hatten getrunken, gegessen, geraucht...", ich musste kurz nachdenken, „Und dann hatten sie etwas verschüttet und der Mann...", ich sah sein Gesicht vor mir, sein ekelhaftes Grinsen, „Der Mann ließ die Zigarette fallen und alles fing Feuer, Logan hat es direkt erwischt. Ich habe versucht, ihn zu retten." Meine Stimme brach und meine Eltern sahen mich geschockt an, mein Bruder schluckte.
„Ich habe es versucht", flüsterte ich und hoffte dabei irgendwie, Logan würde zuhören, „Wir waren in der Küche eingeschlossen, die Tür war verschlossen und das Feuer raste auf uns zu und dann – dann war alles schwarz."
Meine Familie saß sprachlos vor mir und ich wusste, was sie dachten. Sie konnten keine Ähnlichkeit, mit der Geschichte der Rettungskräfte finden. Wie auch? Schließlich fanden sie mich nicht in der Küche, sondern weiter entfernt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dort hingelangt war.
„War noch jemand im Café gewesen, der dir vielleicht geholfen haben könnte?", fragte meine Mutter, weil sie ergründen wollte, warum sich die beiden Erzählungen so widersprachen. Doch ich schüttelte den Kopf.
„Nur Logan und ich."
Bevor meine Eltern noch etwas sagen konnten, klingelte es an der Tür. Irgendwie war ich froh, dass das Gespräch unterbrochen wurde. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Ich wollte es einfach nur so schnell wie möglich hinter mir lassen, denn es tat so weh, meinen besten Freund in Flammen vor mir stehen zu sehen.
„Hey", begrüßte mich Alec, als ich ihm öffnete und er umarmte mich als wäre ich von den Toten wieder auferstanden. Wir gingen nach oben in mein Zimmer, wo er sich sofort an meinen Laptop setzte.
„Lenken wir dich ein bisschen ab. Wir können einen Film schauen, reden, nach einem Job suchen..." Er bemerkte, dass ich nur aus dem Fenster starrte und ihm eigentlich nicht richtig zuhörte. Meine Gedanken schwebten über das Feld, schlängelten sich durch den Wald und gingen weiter, hinauf zum Himmel in die Wolken und...
„Hey, hörst du mir zu?" Blinzelnd, als wäre ich aus einem Traum erwacht sah ich zu ihm, der jetzt plötzlich neben mir stand und mich besorgt anschaute.
„Tut mir leid", seufzte ich.
„Hey", er zwang mich ihn anzusehen, „Du kannst nichts dafür. Und denke schon gar nicht daran, dass du mehr hättest tun können. Gib dir nicht die Schuld, du hast dein bestes gegeben." Er wusste eben genau, wie ich mich fühlte und ich musste ihn einfach dafür umarmen. Er wusste wie es meiner Seele ging und seine Bemühungen, die Löcher in ihr zu heilen, wärmte mir das Herz. Seine starken Arme umschlungen mich, hielten mich fest, als könnte ich jeden Moment umfallen. Sein Kinn lehnte auf meinem Kopf und dann standen wir einfach eine Weile so da. Taten nichts, sagten nichts. Ich genoss das Gefühl, dass alles gut werden könnte. Im Stillen gab er mir damit ein Versprechen. Alles würde gut werden. Daran musste ich glauben.

***

„Und was willst du machen?" Wir saßen auf dem Bett und Alec scrollte durch die Jobangebote.
Kundenservice für ein Reisebüro, Krankenschwester, Köchin, Kassiererin, Polizistin, Bankkauffrau, Sozialassistentin... In all diesen Berufen sah ich nicht mich. Keiner der vorgeschlagenen Berufe sprach mich an. Alec versuchte es immer weiter, versuchte mir die Angebote schmackhaft zu machen, aber irgendwann klappte er den Laptop zu und legte ihn beiseite.
„Weißt du was? Du kannst auch erst mal eine Pause machen, ruh' dich aus, fahr' irgendwohin."
„Wohin soll ich denn deiner Meinung nach ohne Geld fahren?", fragte ich etwas zu spitz. Aber das was ich eigentlich wollte, war in meinem Bett liegen und es am liebsten nie wieder verlassen. Ich hatte nicht viel Geld, bis auf das bisschen Verdiente im Café.
Stille trat ein. Alec versuchte, mich wirklich aufzumuntern, aber irgendwie klappte es nicht. Schließlich schickte ich ihn nach Hause, da es spät war und er morgen früh raus musste.
Und dann war ich allein. Allein mit den Erinnerungen vom gestrigen Tag und dann weinte ich. Ich weinte einfach um alles, was passiert war. Weinte, dass das Feuer ausgebrochen war, weinte um Logan und weinte, dass ich arbeitslos war. Erst jetzt konnte ich alles so richtig rauslassen.
Und so weinte ich bis es fast schon wieder hell wurde.
Dann schnappte ich mir meinen Autoschlüssel und fuhr zum Café, zumindest zu dem was davon noch übrig war und es war erschreckend. Das Feuer hatte nichts übrig gelassen. Ein paar Balken standen noch, man konnte gerade so erkennen, wo der Tresen einmal war. Stühle und Tische waren zu Schutt und Asche verbrannt. Alles war weg.
Ich fuhr weiter aus der Stadt raus und hielt am See, den ich aus meiner Kindheit kannte. Früher waren meine Familie und ich so gut wie jedes Wochenende hier, ob zum Baden im Sommer oder zum Schlittschuhlaufen im Winter.
Der Mond spiegelte sich auf der fast glatten Wasseroberfläche. Ich setzte mich ganz vorn an den Steg und sah zum anderen Ufer rüber, wo das dichte Unterholz mir die Sicht in den Wald verwehrte.
Und wieder gelangten meine Gedanken zu dem Brand und wieder fragte ich mich, wie ich es raus geschafft hatte, ohne bei Bewusstsein zu sein.
Wer oder was hatte mich gerettet? Niemand war dort gewesen, niemand wäre so schnell durch die heißen Flammen gekommen. Warum hatte er mich gerettet und nicht versucht Logan zu helfen? Warum wurde er einfach liegen gelassen?
Die Fragen, auf die ich keine Antwort hatte, drückten gegen meinen Schädel.
Doch plötzlich hörte ich ein verräterisches Knacken im Gebüsch hinter mir. Das Knacken eines Astes, auf den etwas drauf getreten war und er nun in zwei Teilen auf dem kalten Boden lag. Ich drehte mich ruckartig um und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Und da sah ich jemanden.
Seine Umrisse hoben sich kaum vom Hintergrund ab, aber ich sah ihn und ich hatte das Gefühl, dass er mich direkt ansah. Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut auf und ich konnte mich kein bisschen bewegen, aus Angst er könnte mir etwas tun. Doch er verschwand einfach und ich verlor ihn aus den Augen. Erleichtert atmete ich aus und stieg schnell wieder in mein Auto, drehte den Zündschlüssel, trat aufs Gas und weg war ich.

SCHUTZENGELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt