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F I N N

Ich sah auf die Uhr. Zwei Stunden hatte ich noch, dann würde ich Aurora abholen und wir würden gemeinsam in das Haus am See fahren. Ihre Freundin Cece hatte mich spontan eingeladen, was mich sehr gewundert hatte, da sie mich kaum kannte.
Aber ich konnte jederzeit auf Aurora Acht geben und das war alles was zählte.
„Ming Zhang, ich bitte dich nach vorn zu kommen."
Elijah Cullen stand auf der erhobenen Bühne im großen Saal des Instituts und sah in die große Runde seiner Schutzengel.
Er hatte dieses Institut gegründet. Wir als Schutzengel hatten eine besondere Aufgabe in unserem Leben. Das hat Elijah erkannt und hat uns eine Trainingsstätte und einen Rückzugsort geboten. Er war ein sehr großer Mann und jeder, der hier stand wusste das. Wenn seine Stimme sich erhob, hörte jeder zu und wagte es nicht, irgendeinen Laut von sich zu geben und seine Worte zu unterbrechen.
Ming ging ganz aufgeregt nach vorn, sie war erst 18, aber die Ausbildungsleiter hatten einen sehr guten Schutzengel aus ihr gemacht. Sie konnte sich alles sehr schnell merken und aneignen, in keinem Trainingsbereich hatte sie Schwierigkeiten. Schon heute hatte sie ihre Prüfung bestanden und ihrem Schützling das Leben gerettet, weil er beinahe einen Verkehrsunfall mit seinem Fahrrad gehabt hätte. Sie war definitiv bereit ihm ein Leben lang zu dienen.
Sie trank aus dem großen Kelch, aus dem auch ich trinken musste, als ich mit Aurora's Seele verbunden wurde. Es war immer wieder faszinierend, das mit anzusehen.
Mings Augenlider flatterten, ihre Beine wurden wackelig.
Das ganze Leben des Jungen, seine Erlebnisse, Ängste, Träume, strömte alles auf sie ein. Sein Herzschlag nistete sich in ihrem Körper ein, seine Gefühle zuckten durch ihre Gedanken – und dann war es vollendet.
„Ming, du bist nun mit deinem Schützling verbunden. Es ist nun deine Aufgabe, bis an sein Lebensende auf ihn aufzupassen und ihn durch ein sicheres Leben zu führen."
Ming strahlte über beide Ohren und der ganze Saal bebte vor Glückwünschen.
Musik wurde gespielt, die Engel tanzten in der Luft, ihre Schwingen glitzerten, wie funkelnde Sterne. Eine weitere Zeremonie, ein wichtiger Schritt im Leben eines Schutzengels war vollbracht.

A U R O R A

Die Woche war schnell vergangen. Ich hatte fast jeden Abend in der Bar gearbeitet, damit ich am Wochenende frei bekam. Unter der Woche war nicht so viel los, weshalb ich auch nicht bis spät in die Nacht aufbleiben musste. Es waren nichts weiter, als ein paar Geschäftsmänner, die den Alttag ausklingen lassen wollten, oder diejenigen, die fast jeden Abend in der Bar waren, oder das ein oder andere Date, wo ich immer gespannt zugehört hatte.
Pünktlich 17:00 Uhr klingelte es an der Tür. Meine Mutter war schneller als ich und sah mit großen Augen zu Finn auf, der mit einem Lächeln vor ihr stand.
„Na nu, wer bist du denn?", sie sah aufgeregt zwischen uns beiden hin und her.
„Mom, das ist Finn. Er ist ein Freund von mir und er fährt mit uns mit zum See."
Meine Mutter schüttelte ihm völlig begeistert die Hand.
„Aurora hat uns noch gar nichts von dir erzählt."
„Wir kennen uns auch noch nicht so lange", sagte Finn freundlich und setzte wieder sein perfektes Lächeln auf, was meine Mutter noch mehr begeisterte.
„Na dann wünsche ich euch viel Spaß." Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und Finn nahm mir meine Tasche ab.
„Ein Gentlemen", flüsterte meine Mutter und schloss grinsend die Haustür hinter mir.
Ich stieg in Finn's roten Mustang.
Wir würden ungefähr eine Stunde nebeneinander sitzen, was mich ein wenig nervös machte.
Am Anfang saßen wir nebeneinander und ließen einfach die Landschaft an uns vorbei ziehen.
„Wart ihr schon oft in diesem Haus?", fragte er und unterbrach die Stille.
„Ja, vor allem als wir klein waren, haben uns Cece's und Nathan's Eltern oft mitgenommen. Zweimal waren wir jetzt schon ohne Erwachsene dort. Haben deine Eltern so was mit dir auch gemacht?"
Ich sah in seine markanten Gesichtszüge.
„Nein, wir haben nicht viele Ausflüge gemacht. Bei unserer Familie ist das nicht so üblich."
Seine Augen zuckten kurz zu mir herüber und ich bemerkte, dass ich ihn angestarrt hatte.
Hoffentlich hatte er das nicht bemerkt.
„Was ist denn üblich in eurer Familie? Erzähle mir was von ihnen."
„Das ist kompliziert. Mein Dad hatte nie wirklich Zeit für mich, aber er war ein großes Vorbild." Sein Blick wurde traurig und ich konnte sofort erkennen, das irgendetwas nicht stimmte.
„Was ist mit deinem Dad passiert?"
„Er ist im Einsatz gestorben."
„Das tut mir leid. War er ein Soldat?"
„So etwas in der Art."
„Und deine Mutter?", hakte ich weiter nach und hoffte, dass ich ihm nicht zu weit ging.
„Sie starb bei meiner Geburt", er machte eine kurze Pause, „Aber genug von mir. Reden wir über dich."
Ich war froh, dass er das Thema wieder auflockerte und gleichzeitig erstaunt, dass er so einfach darüber reden konnte.
„Was will denn der Herr wissen."
Er lachte. „Erzähle mir das Peinlichste, was dir je passiert ist."
„Ist das dein Ernst?", ich musste mitlachen, „Gut, wie du willst. Aber lach' mich nicht aus!"
„So etwas würde ich niemals tun", antwortete er mit gespielt ernster Miene.
„Also, Cece und ich waren auf einer Party. Ich hatte eindeutig zu viel getrunken und da war dieser eine Typ, der schon den ganzen Abend was von mir wollte. Dann hatte er sich irgendwann getraut mich anzusprechen und was mache ich? Ich musste auf Toilette rennen, da mir übel wurde. Ich hatte ihn den ganzen Abend nicht mehr gesehen und konnte mich nicht mal entschuldigen."
„Der arme Kerl", prustete Finn los und ich konnte mich fast nicht mehr halten, als ich an diesen Abend dachte. Das war wirklich das Schlimmste, was mir bis jetzt passiert war.
„Ich hoffe, du wirst mich nie so zu Gesicht bekommen - völlig betrunken und blass wie eine Leiche, vor Übelkeit!"
Er sah mich kurz mit einem Lächeln an.
„Ich bin mir sicher, selbst da sähest du noch genauso schön aus."
Mir kribbelte es im Bauch, als er das sagte. Warum schaffte er es immer, mich selbst bei so einem Thema in Verlegenheit zu bringen?
Wir unterhielten uns noch eine Weile und es war schön und machte Spaß. Wir fanden immer ein Gesprächsthema, egal was es war.
Doch ehe ich noch etwas sagen konnte, bogen wir auch schon auf den Parkplatz vorm Haus ein. Die Zeit verging mit unseren Gesprächen doch sehr schnell.
Das Haus sah noch genauso aus, wie vor ein paar Jahren, als wir das letzte Mal hier gewesen waren. Es war sehr modern, mit einem fantastischem Blick auf den See, auf dessen Oberfläche die Sonnenstrahlen tanzten.
„Da seid ihr ja endlich!" Cece stand in der Tür und strahlte über beide Ohren.
Nathan kam sofort nach draußen und half uns mit den Taschen, die wir auch gut alleine hätten tragen können. Aber er war immer hilfsbereit und verwöhnte mich, als wäre ich eine weitere Schwester von ihm.
„Wo bleibt Alec?", fragte ich Cece, als ich bei ihr angekommen war. Ich hatte sein Auto noch nicht gesehen, was mich wunderte.
„Er hat heute Morgen abgesagt. Ein schlimmer Magen-Darm-Virus."
Irgendwie hatte ich das Gefühl, seinen Virus hatte ich ihm eingepflanzt, weshalb er jetzt doch nicht mehr mitfahren konnte. Er war verletzt, weil ich ihm nicht das zurückgeben konnte, was er für mich empfand. Dabei hatte er es nicht verdient, traurig zu sein, wo er doch immer für mich da war. Wenn ich daran dachte, fühlte ich mich elend ihm gegenüber.
„Ist etwas zwischen euch passiert? Dich scheint das ja gar nicht zu überraschen."
Cece sah mich prüfend an, als wir den geräumigen Eingangsbereich betraten und ich meine Schuhe auszog. Warum wusste sie so etwas immer sofort?
„Er hat mich geküsst und mir gestanden, was er für mich empfindet", flüsterte ich, um sicherzugehen, dass das niemand mithörte. Besonders war es mir wichtig, dass Finn es nicht hörte, warum auch immer. Die Jungs standen aber inzwischen auf der großen Terrasse hinterm Haus und unterhielten sich.
„Autsch, und du hast ihm gesagt, dass du nicht dasselbe empfindest?"
Ich presste meine Lippen aufeinander und nickte schüchtern.
„Deshalb will er wahrscheinlich nicht mehr mitkommen und, dass Finn mit ist, hat es wahrscheinlich noch schlimmer gemacht."
Cece zischte durch die Zähne.
„Das ist dann wohl auch meine Schuld", sie nahm mich in den Arm und murmelte mir ans Ohr, „Er wird schon darüber hinwegkommen."
Ich glaubte nicht, dass er das auch so einfach betrachtete.

***

Wir bestellten uns diesen Abend Pizza und saßen noch bis spät abends, in unsere Decken gewickelt, auf der Terrasse.
Wir erzählten uns Geschichten aus der Zeit, als wir als Kinder hier waren und Finn musste sich mit anhören, wie ich beim Spielen oft in den See gefallen war. Er lachte und ich hätte ihn stundenlang dabei beobachten können.
Ich wusste nicht genau, was das zwischen uns war, aber ich spürte, dass es eine Verbindung gab. Seine Augen strahlten, als er mich ansah. Ich spürte seine Blicke auf mir, wenn ich erzählte. Es war ein unglaublich schönes Gefühl und es war ein bisschen neu für mich, dass ich diejenige war, die für jemanden interessant zu sein schien. Wenn Cece und ich zusammen unterwegs waren, wurde sie angeschaut, ich war nur eine Nebenfigur. Aber diesmal war ich der Mittelpunkt in seinen Augen, Cece schien ihn gar nicht zu interessieren. Sein Ausdruck war nicht so intensiv, wenn sie etwas erzählte, als wenn ich sprach. Was auch immer das für ein Gefühl war, ich wollte nicht, dass es aufhörte. Ich war süchtig danach, süchtig nach seinen Blicken, nach seinem Lachen – süchtig nach ihm. Dabei kannte ich ihn kaum. ‚Ich sollte mich etwas zusammenreißen', herrschte mich meine innere Stimme an.
Als es schon fast ein Uhr nachts war, gingen wir rein.
„Ich habe vergessen zu erwähnen, dass unsere Eltern die zwei anderen Schlafzimmer renovieren. Ich hoffe euch stört es jetzt nicht alt zu viel, wenn ihr euch ein Schlafzimmer teilt. Es sei denn, Finn, du möchtest unbedingt auf der Couch schlafen."
„Das passt schon", sagte er, ohne zu überlegen und trug unsere Taschen zu unserem Zimmer, das uns Cece zeigte.
Beim Gehen zwinkerte Cece mir verräterisch zu, wobei sie nur einen unsicheren Blick meinerseits erntete.
Und dann standen wir zu zweit in dem Zimmer, wo es nur ein Bett gab.
„Wenn du möchtest, kann ich auch auf dem Boden schlafen", bot Finn an und sah mich vorsichtig aus seinen schönen braunen Augen an.
„Äh... nein, musst du nicht. Wir können auch nebeneinander liegen."
Er nickte. Verdammt, was tat ich hier nur?
Ich ging ins Bad und zog mir mein viel zu großes Shirt über, was mir fast bis zu den Knien reichte. Dann sah ich in den Spiegel und versuchte aus meinem Spiegelbild heraus, zu ergründen, was hier gerade passierte. Zugegeben hatte ich noch nie mit einem Mann zusammen im Bett geschlafen. Davon abgesehen, noch nie mit so einem Attraktiven, wie ihn.
Mein Aussehen war definitiv in Ordnung, aber irgendwie hatte sich noch nie jemand so richtig für mich interessiert. Außer Alec.
Doch etwas bereitete mir Bauchschmerzen.
Vor kurzem wollte Finn sich nicht mehr mit mir treffen und jetzt würden wir nebeneinander in einem Bett schlafen. Das hätte ich mir nicht mal erträumen können.
Ich ging zurück ins Zimmer, wo Finn schon auf dem Bett lag. Oberkörperfrei und seinen Zeichenblock in der Hand, worauf er in sanften Bewegungen mit dem Bleistift Linien skizzierte.
„Was zeichnest du?"
Seine Augen sahen mich über den Rand des Blocks unter einer dunklen Strähne seiner wilden Haare an.
Ich setzte mich zu ihm und erhaschte einen kurzen Blick auf die Zeichnung von unserem Haus am See, bevor er sie wegzog.
„Hey! Das ist gut!", protestierte ich und versuchte, ihm den Block aus der Hand zu stehlen, doch er war zu schnell.
„Du bist sehr neugierig", neckte er und riss vor mir aus.
Meine Versuche ihn zu überrumpeln, scheiterten und so bekam ich die Zeichnung nicht zu sehen.
Finn verstaute sie lachend irgendwo zwischen seinen Sachen und legte sich danach zu mir ins Bett.
Ich schaltete das Licht aus und drehte mich zu ihm. Ich konnte nur leicht seine Umrisse wahrnehmen, aber ich wusste, dass er mir sehr nah war und mich ebenfalls anschaute.
Ich rutschte vorsichtig mit meinem Kopf noch näher an ihn heran, sodass ich jetzt sanft seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte.
„Warum wolltest du dich nicht weiter mit mir treffen?", fragte ich gerade heraus, weil es mich immer noch beschäftigte und seine Launen für mich keinen Sinn ergaben.
Er seufzte und legte sich auf den Rücken, sodass er sich wieder ein bisschen entfernte.
„Das ist kompliziert und das hat nichts mit dir zu tun. Das liegt an mir, aber ich kann es nicht erklären."
Was er sagte, verstand ich kein bisschen. Warum war er so?
„Sollte ich das verstehen?"
Finn drehte sich wieder zu mir, sodass er jetzt noch näher lag und sein Gesicht direkt vor mir war, weshalb ich kurz nach Luft schnappen musste und mein Herz schneller auf und ab sprang. Sein Duft hüllte mich ein und ich genoss seine Nähe. Ich wollte wissen, wie
sich seine Lippen anfühlten und konnte jetzt kaum noch atmen, wenn er mir so nah war. Warum genau hatte er nochmal so eine Wirkung auf mich?
„Nein", hauchte er.
„Was muss ich tun, damit du dich mir öffnest?", flüsterte ich und rutschte noch ein Stück näher.
„Schlaf jetzt, Aurora", erwiderte Finn und drehte sich von mir weg.
Er nahm mir seine Nähe und seine Wärme mit einem Mal und ich starrte jetzt nur noch auf die Umrisse seines Rückens.

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