A U R O R A
Würde mich jemand fragen, ob man zweimal sterben kann. Meine Antwort würde ‚Ja' lauten.
Wie fühlte es sich nun an, zu sterben? War es leicht? Definitiv nicht, denn ich verspürte Schmerzen. Aber...
Wie konnte es sein, dass meine Lunge sich immer noch hob und senkte, als hätte sie nie aufgehört?
Wie war es möglich, dass ich, auch jetzt, mein Herz unter meinen Rippen schlagen spürte?
Wie konnte ich tot und dennoch am Leben sein?
Ich spürte das eiskalte Wasser meine Beine hinauf krabbeln. Spürte, wie es mich umschloss und in sich aufnahm. Doch das schlimmste Gefühl kam erst, als mir die Luft ausging. Als sich der Sauerstoff langsam, aber sicher, von mir entfernte.
Es gab keinen Ausweg, wir sanken auf den Grund des tobenden Flusses und wir konnten nichts tun.
Wie schrecklich sich das anfühlte, zu wissen, dass man sterben würde.
Und dennoch...flatterten jetzt meine Augenlider und ich versuchte meine Augen langsam zu öffnen.
Das konnte nicht der Tod sein.
Ich nahm, in einem leichten Grau getauchte, Wände wahr. Große Fenster, schön dekoriert, ein großer Esstisch und eine angrenzende Küche umgaben mich.
Träumte ich?
Wie konnte es möglich sein, das ich noch am Leben war?
Sofort spielten meine Gedanken noch einmal das Szenario durch. Der Van, das Wasser, der Tod.
Und dann sah ich Finn, der sich zu mir setzte, mit einem leicht besorgten Gesicht. Sein Haar lag ihm unordentlich in der Stirn und er trug einen hellgrauen Hoodie. Nicht wie sonst, seine schwarze Lederjacke.
Er sah verdammt gut aus.
„Wie geht es dir?", fragte er besorgt und drückte leicht meine Hand.
Tja, keine Ahnung, wie es mir ging. Schließlich war ich entweder in einem Traum oder... wenn ich das nur wüsste.
Ich versuchte mich ein wenig aufzurichten. Meine Beine und Arme fühlten sich an wie Blei und mein Kopf dröhnte ein bisschen.
„Was ist passiert?", fragte ich, wobei mir auffiel, dass Finn aussah, als wäre rein gar nichts passiert.
„Wir sind von der Brücke gestürzt", fing er mit seiner ruhigen Stimme an, „Der schwarze Van hatte uns von der Straße abgetrieben und wir sind ins Wasser gefallen. Meine Tür hatte ich aber aus Versehen nicht richtig verschlossen. Somit konnte ich uns beide noch nach oben ziehen."
Ich sah ihn ungläubig an.
„Du hattest noch geatmet, also hat eine Freundin von mir über deinen Gesundheitszustand entschieden. Sie ist Ärztin. Sie meinte, dir fehlt nichts, aber ich sollte dich noch ein paar Tage hierbehalten", fuhr Finn fort.
„Wie lange habe ich geschlafen?"
„Beinahe einen ganzen Tag, es ist ein Uhr mittags."
„Wo sind wir?" Mir kam die Umgebung überhaupt nicht bekannt vor.
„In meiner Wohnung. Wie geht es dir?"
Ich versuchte das alle hier zu begreifen und versuchte verdammt nochmal, zu begreifen, warum ich nicht tot war.
Schon das zweite Mal.
„Ich weiß nicht", stotterte ich, „Ich bin fast gestorben und verdankte dir anscheinend schon wieder mein Leben."
Ein kleines Schmunzeln zuckte über sein Gesicht.
„Ich bin einfach nur froh, dass es dir gut geht. Willst du etwas essen? Ich habe Reis mit Hähnchen gemacht."
Ich sammelte meine Gedanken, die noch etwas zerstreut in meinem Gehirn lagen und spürte, wie mein Magen knurrte. Ich hatte so was von Hunger.
„Ja, gerne". Ich schlug die Decke zurück und hievte mich aus dem weichen Bett.
Das Bett stand in einem großen Wohnzimmer, wobei aber noch genug Platz für die geräumige Sofaecke und eine Bücherecke war. Nicht zu vergessen der große Esstisch.
Und alles so modern, mit dem teuren Laminat und der Natursteinwand.
Wie viel verdiente der Kerl?
Finn ging in die Küche und kam kurz darauf mit zwei beladenen Teller zurück, die er auf den Esstisch stellte.
„Ich hoffe, es schmeckt dir", lachte er mit einer tiefen Stimme, „Ich bin leider nicht der beste Koch."
Ich lief vorsichtig zum Tisch und setzte mich. Meine Beine und Arme waren schwer und ich fühlte mich, als wäre ich irgendein Marathon gelaufen.
Als ich die erste Gabel in den Mund steckte, wurde ich von einem wahnsinnig guten Geschmack überrascht.
„Mmmmmm! Finn, du kannst echt gut kochen. Das schmeckt wunderbar!", schwärmte ich und aß hastig weiter. Mir kam es vor, als hätte ich eine Woche lang nichts gegessen.
„Bin ich froh, dass ich dich jetzt nicht auch noch vergiftet habe", lachte er.
„Was ist mit deinem Auto?"
„Das wurde aus dem Fluss geborgen. Totaler Schrott."
„Oh", murmelte ich zustimmend und leerte meinen Teller weiter. Dabei musste ich ihn immer wieder aus dem Augenwinkel anschauen. Er hatte mich gerettet.
Ohne ihn wäre ich jetzt tot.
Doch jetzt fiel mir auch wieder ein, was vor dem Unfall war.
Er wollte mich nicht mehr sehen. Er hatte kein Interesse an mir, er wollte mich nur kennenlernen und hatte gemerkt, dass ich niemand für ihn bin.
Also, warum hatte er mich nicht einfach nach Hause geschafft?
„Warum bin ich hier?", fragte ich nach einer Weile.
Finn schluckte seinen Bissen runter und sah mich mit den schönen braunen Augen an, die sich immer weiter in meine Seele brannten.
„Ich wollte erst sehen, dass es dir gut geht, also habe ich dich mit zu mir genommen."
„Du wolltest mich nicht mehr sehen."
Jetzt wandte er den Blick ab.
„Ich weiß", flüsterte er und fuhr sich durch das dunkle Haar, sodass es noch unordentlicher aussah. Aber das war egal, er sah einfach perfekt aus.
„Warum bist du jetzt wieder so nett zu mir?", hakte ich weiter nach und sah, wie er mit irgendetwas kämpfte.
„Aurora, es ist kompliziert."
„Das sagtest du bereits."
„Belasse es dabei", Finn stand auf und brachte die Teller in die Küche, um sie in die Spüle einzuräumen.
Ich beließ es dabei, weil ich erstens keine Kraft hatte, mit darüber den Kopf zu zerbrechen und zweitens nicht wollte, dass er sich wieder von mir abwendete.
Geschockt viel mir ein, dass wahrscheinlich niemand wusste, wo ich war. Also lief ich, so schnell es ging, zum Bett und nahm mein Handy vom Nachtschrank.
Zwei verpasste Anrufe von meiner Mutter, drei Nachrichten von Cece und eine Nachricht von Alec.
Zuerst rief ich meine Mom an.
„Aurora, wo steckst du? Ihr wolltet doch gestern Abend schon zurückkommen?", fragte sie sehr hysterisch.
„Entschuldigung", seufzte ich, „Ich habe bei Cece übernachtet und vergessen dir Bescheid zu geben."
„Offensichtlich, junge Dame", schnaubte sie, „Wann kommst du nach Hause?"
„Das weiß ich noch nicht."
„Okay, wenigstens weiß ich jetzt, wo du steckst. Sag Cece und Nathan liebe Grüße."
„Mach ich", antwortete ich, auch, wenn das alles eine Lüge war. Aber hätte ich erzählt, dass ich bei Finn war, wäre dieses Telefonat nicht so schnell zu Ende gewesen.
Dann las ich die Nachrichten von Cece.
„Hey, wo steckst du?", „Bist du mit zu Finn?", „Erzähle mir alles!"
Ich antwortete ihr, dass ich bei ihm war. Ihr konnte ich schließlich nichts vormachen und sie konnte das ruhig wissen.
Alec hatte mir geschrieben, dass es ihm leid tat, wie er am Wochenende drauf gewesen war.
Ich tippte, dass er sich deswegen keine Sorgen machen brauchte.
„Was willst du mit dem angefangenen Tag noch anstellen?", fragte mich Finn und kam wieder aus der Küche.
Verlegen fügte er hinzu: „Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich meine, bis es dir besser geht."
Was war nur los mit ihm? Er stieß er mich immer von sich weg und jetzt wollte er anscheinend, dass ich bei ihm blieb, so wie er vor mir stand und gespannt auf meine Antwort wartete.
„Wenn es in Ordnung für dich ist, werde ich heute nirgendwo mehr hingehen." Diese Antwort schien Finn zu gefallen, denn ich konnte ganz kurz sehen, wie seine Miene sich aufhellte.
„Kann ich duschen gehen?"
„Klar, hier hinten", er führte mich zum Bad, welches sich hinter der Tür, neben dem Bett befand. Ein nicht gerade kleines Bad. Eine Wanne stand in der Mitte des Raumes, von Pflanzen umgeben, die Dusche war fast doppelt so groß, als die bei uns zu Hause und der ganze Boden war mit schwarzen Fließen versehen. Rechts befanden sich zwei Waschbecken auf modernen Schränken, unter großen Spiegeln, die ein wunderschönes Licht eingebaut hatten.
Er bemerkte,dass ich mit dem Staunen gar nicht aufhören konnte und drückte mir ein paar Handtücher in die Hand.
„Fühl dich wie zu Hause." Dann verließ er das Bad und ließ mich mit der Schönheit und der Fußbodenheizung alleine.
Ich streifte meine Sachen ab und stieg hinter das Glas der Dusche, wo ich sofort das warme Wasser aufdrehte.
Es spülte sofort die Erinnerungen des kalten Wassers aus dem Fluss fort von mir und in den Abfluss.
Der Gedanke, dass ich fast gestorben wäre, löste Tränen in meinen Augen. Aber ich war am Leben und atmete.
Fast wäre ich durch ein Feuer gestorben und gestern fast ertrunken.
Was würde wohl als nächstes kommen? Langsam fing ich an zu glauben, dass mein Leben mich nicht leiden konnte und alles versuchte, um mich zu beseitigen.
„Schwachsinn", knurrte ich zu mir selbst, „Das waren alles nur dumme Zufälle und das wird nicht mehr passieren."
Das Wasser tat gut auf meiner Haut und wärmte mein Herz und meine Seele.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stieg ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Ich wickelte mich in ein Handtuch und suchte meine Sachen.
Doch, auch wenn sie mittlerweile trocken waren, stanken sie fürchterlich nach ekelhaftem Wasser aus dem Fluss.
Verdammt.
Ich zog mein Handtuch fester um meinen Körper und öffnete die Badezimmertür.
Finn saß in einem bequemen Sessel und kritzelte in seinem Zeichenblock herum, völlig vertieft, sodass er mich fast nicht bemerkt hätte. Doch, als seine Augen mich entdecken, wanderten sie augenblicklich an mir auf und ab und ich spürte, wie ich errötete.
„Ich weiß, das ist jetzt etwas komisch", fing ich an, „Aber könnte ich eventuell ein paar Sachen von dir anziehen? Meine Sachen stinken fürchterlich nach Algen und Fisch."
Als wäre er gerade aus einem Bann erwacht, sprang er auf.
„Ja, klar. Ein Moment, ich suche dir etwas heraus", sagte er hastig und lief in einen weiteren Raum, der an das Wohnzimmer grenzte. Als die Tür aufging, konnte ich einen kurzen Blick hinein erhaschen.
Er hatte sogar ein Ankleidezimmer?
Er kam mit einem Stapel Kleidung wieder heraus und überreichte ihn mir.
Ich ging wieder ins Badezimmer und begutachtete, was er für mich ausgesucht hatte. Es war ein schlichtes schwarzes T-Shirt, das mir bis zu den Oberschenkeln ging. Dazu eine graue Jogginghose, die mir ebenfalls ein gutes Stück zu groß war.
Ich föhnte mir noch meine Haare trocken und ging wieder zurück zu Finn, der immer noch über seinem Block hing und den Bleistift schwang.
Als er mich sah, klappte er ihn zu und seine Augen wurden ein wenig größer, als er mich in seinen Sachen sah, doch er sagte nichts dazu.
„Wollen wir einen Film schauen?", fragte er mich und setzte sich auf das große graue Sofa.
„Ja, können wir gerne machen." Ich setzte mich zu ihm, aber ließ genügend Abstand zwischen uns, die Stimmung war sowieso schon komisch.
Ich suchte uns eine romantische Komödie aus, da er gesagt hatte, er würde alles über sich ergehen lassen.
Also saßen wir den ganzen restlichen Tag auf dem Sofa und sahen uns Filme an. Das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht.
Wir lachten gemeinsam, ich weinte, wenn es traurig wurde und wir schauten beide gespannt in den Bildschirm, wenn es gerade brenzlig wurde.
„Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es geworden ist", sagte ich beim Abspann des letzten Filmes und sah, dass es draußen dunkel geworden war.
„Ja, es ist schon nach 11. Wow, wir haben wirklich fünf Filme geschaut!", lachte Finn und rieb sich die Augen.
„Das hat doch Spaß gemacht", neckte ich ihn.
„Ja, das stimmt, du kleine Fernseheule."
Ich nahm ein Sofakissen und schlug damit spielerisch auf ihn ein.
„Dir scheint es ja schon viel besser zu gehen."
„Ja, gut genug, um dich zu schlagen", quiekte ich, als er mir das Kissen aus der Hand nahm und stattdessen mir ins Gesicht warf.
„Schon vergessen, ich habe dir das Leben gerettet", Finn lächelte und drückte dabei die Zunge an die Zähne.
„Das gibt dir aber nicht das Recht mich zu ärgern. Du wolltest genauso ein Film nach dem anderen schauen!", kicherte ich.
Er sah mir tief in die Augen, mit dem schönsten Lächeln, dass ich je gesehen habe, als ich mir die langen Haare aus dem Gesicht strich.
„Was?", fragte ich und krabbelte zu ihm rüber.
Er schluckte, als ich näher bei ihm war und musterte mich immer noch intensiv, was mir eine Gänsehaut unterbreitete. Was er in mir auslöste, hatte noch nie jemand zuvor in mir ausgelöst. Und es war ein unglaublich schönes Gefühl in seiner Nähe zu sein.
Er strich mir eine Strähne hinters Ohr und kitzelte sanft meine Wange mit seinem Finger. Ich spürte seinen heißen Atem auf meinen Lippen und wollte nochmal dieses Feuer in mir spüren, als wir uns zum ersten Mal geküsst hatten.
Doch, ehe ich mich versah, entzog er sich mir wieder und ich blickte, peinlich berührt, auf meine Hände. Warum machte er das mit mir?
„Ich bin müde. Du kannst im Bett schlafen. Ich nehme das Sofa."
Finn stand auf und brachte seinen Zeichenblock an einen sicheren Ort, während ich immer noch auf dem Sofa sitzen blieb und zu verstehen versuchte, was ich falsch gemacht hatte.
Wenige Minuten später erhob ich mich dann und verkroch mich im Bett.
Finn ging in sein Ankleidezimmer und kam nur mit Boxershorts bekleidet wieder heraus.
Das Wohnzimmerlicht warf Schatten auf seinen muskulösen Oberkörper.
Ich genoss den Anblick, während er sich das Sofa herrichtete, doch er nahm ihn mir, indem er das Licht ausmachte.
„Gute Nacht", murmelte er, doch ich antwortete ihm nicht.
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SCHUTZENGEL
Romance~Dann drehte er sich um und ich sah direkt in seine Augen, deren Bernsteinfarben mich in ihren Bann zogen. Sein schwarzes Haar lag ihm ein bisschen in der Stirn. Er beugte sich zu mir und ich konnte seinen wunderbaren Duft riechen, sodass meine Knie...