Kapitel 42 - Jakob

29 4 0
                                    

„Ich möchte mich jetzt schon für meine Familie entschuldigen. Manchmal sagen sie Dinge, die sie eigentlich nicht so meinen.", sagt Viki neben mir auf dem Rücksitz im Taxi. Ich drücke beruhigend ihre Hand. „Ich bin mir sicher, das wird nicht passieren." Ich nehme ihre Hand und drücke einen Kuss auf ihre Handinnenfläche. Der Blick, den sie mir zuwirft, lässt mein Herz seit Tagen höherschlagen. Es ist eine Mischung aus Liebe und Verlangen, gepaart mit dem Gefühl, ich wäre der einzige Mann auf der Welt, an den sie sich anlehnen möchte. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das meinen Puls in die Höhe steigen lässt.

Sie hat mir erzählt, dass sich ihre Familie jeden ersten Sonntag im Monat zum Mittagessen bei ihren Eltern trifft, eine ungeschriebene Regel, die jeder Folge zu leisten hat. Und heute werde auch ich dabei sein. Und hoffentlich werden noch zahlreiche Essen wie diese folgen, weil es bedeuten würde, dass ich weiterhin an Vikis Seite sein werde.

In den letzten Tagen haben wir viel geredet, über uns, über die Vergangenheit, über unsere Unsicherheiten, über alles. Es war notwendig, um die letzten Zweifel beiseitezuräumen, aber jetzt ist da nichts außer pures Vertrauen zwischen uns. Vertrauen und Verlangen und Begierde. Ich werde niemals genug von Viki bekommen. Mir liegt, wie schon in den vergangenen Tagen eine bestimmte Frage auf der Zunge, aber ich bleibe still. Es sind zwei verschiedene Dinge, endgültig zueinander gefunden zu haben und die Zweisamkeit zu genießen oder aber die Zukunft gemeinsam zu bestreiten, indem man zusammenzieht. Ich möchte nichts überstürzen und lächele Viki deswegen nur still an. Alles Schritt für Schritt und wenn es so läuft, wie ich denke, werden wir noch genug Zeit zusammen verbringen.

Das Taxi reißt mich aus meinen Gedanken, als es im Kies vor dem großen Haus bremst und schließlich stehen bleibt. Als ich das eine Mal hier war, konnte ich die ganzen Eindrücke nicht aufnehmen, weil ich mich so sehr um Viki gesorgt hatte. „Ist es wirklich so riesig, wie es aussieht?", frage ich sie, während wir aussteigen. „Es hat schon etliche Zimmer. Kommt darauf an, was man gewohnt ist."

Hand in Hand gehen wir die Treppen herauf, klingeln und warten, bis eine Frau mittleren Alters uns die Tür öffnet. „Francis. Wie war der Urlaub?", fragt Viki mit einem Lächeln im Gesicht. „Schön. Danke der Nachfrage. Alexander und Jessica sind bereits da." Dann wird der dunkle, schnittige BMW wohl Vikis Bruder gehören, der in der Auffahrt steht. Viki zieht mich in den Flur und schaue mich genau um. Marmorboden, hohe, helle Wände, eine breite Treppe, die in die oberen Geschosse führt.

„Um Gottes Willen!" Die Stimme von Vikis Mutter lässt mich alarmiert wieder zu Viki umdrehen. Kann Vikis Mutter noch immer nicht verkraften, dass ich an der Seite ihrer Tochter stehe? Sie hat ihre Hand an ihre Brust gedrückt, ihre Augen sind weit aufgerissen. „Was hast du getan?", fragt sie an Viki gerichtet. Erst da wird mir klar, dass sie Vikis kurze Haare meint. Erleichtert atme ich aus und sehe, wie Viki ihre Augen verdreht. „Ich brauchte eine Veränderung.", meint sie zu ihrer Mutter, während vor uns die restliche Familie ihre Kommentare zur neuen Frisur zum Besten geben.

„Lasst uns essen!", unterbricht Vikis Vater die Diskussion und nickt mir mit einem Lächeln zu. Da ich kein besonders nachtragender Mensch bin, nicke ich ernst zurück. Unsere erste Begegnung lief alles andere als optimal und auch bei der Zweiten haben wir nicht miteinander gesprochen, aber ich hoffe, dass sich das heute ändern wird. Und ich täusche mich nicht, denn schon bald werde ich von ihm ins Kreuzverhör genommen. Ich kann es ihm nicht verübeln, immerhin gehe ich mit seiner Tochter aus. „Du warst auf einem Internat?", fragt Luise interessiert nach. „Wie war es da?", fragt auch Sebastian. „Keiner von uns war auf einem." Dabei wirft er seinem Vater einen Seitenblick zu. „Es gab klare Regeln. Die Lehrer und Aufsichtspersonen hatten manchmal einen ganz schönen Kampf mit uns. Vor allem wenn man unerlaubt in die Stadt ist oder man erst nach Zuschluss wieder gekommen ist. Da musste man kreativ werden, um nicht die Nacht draußen zu verbringen." „Hört sich richtig cool an.", meint Sebastian. „Das kann ich mir vorstellen, wie du immer ausreißen würdest.", sagt Viki, die bisher ziemlich ruhig gewesen ist. „Ich stelle mir das alles nicht ganz so schön vor. Es gab doch sicherlich auch Leute von der Sorte, die andere Kinder unter Druck gesetzt oder gemobbt haben?", fragt Jessica. Ich nicke. „Ja, das waren meist die reichen und arroganten Arsc... äh.. die Schnössel, die ihre Grenzen ausprobieren wollten." Daraufhin wird es am Tisch unangenehm still. Habe ich was Falsches gesagt? Als ich zu Viki blicke, beißt sie sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. „Na, was für ein Glück, dass wir nicht auf einem Internat waren. Sonst hätte es vier reiche, arrogante Arschlöcher mehr gegeben, die ihre Grenzen ausprobiert hätten.", lacht Alexander und prostet mir mit seinem Glas zu. Die anderen am Tisch beginnen auch zu lachen und mir wird das alles unangenehm. „So war das nicht gemeint..." Ich würde sie doch niemals als solche bezeichnen. „Ist schon gut. Wir haben alle eine ordentliche Portion Selbstironie.", meint Viki leise und drückt unter dem Tisch meinen Oberschenkel. „Es war aber auch nicht immer einfach. Weil meine Eltern so weit entfernt waren. Ich bin ein ziemlicher Familienmensch." „Sag das nicht so laut.", sagt Viki warnend. „Na, dann herzlich willkommen in dieser Familie." Das Lächeln von Vikis Vater sieht für mich aus wie eine Drohung.

Winternacht - Zurrenberg RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt