Prolog

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Die Realität ist eine seltsame Angelegenheit. Gefiltert durch individuelle Wahrnehmungen, Erfahrungen und Glaubenssätze. Wie seltsam absurd muss eine Situation sein, dass mein Gehirn sich schlicht weigert sie als Realität anzuerkennen?

Egal, wie oft Caroline die Augen verzweifelt zusammenpresste und hoffnungsvoll wieder aufriss, ihre Hände blieben mit dünnen Seilen eng zusammengebunden und der rechte Knöchel mit einer Kette an der metallischen Wand fixiert. Der schneidende Schmerz in ihren Handgelenken war der einzige Grund, aus dem sie sicher war, dass all dies kein Traum war, sondern bittere Realität sein musste.

Die Eiseskälte war mittlerweile bis zu den Knochen vorgedrungen und betäubte nicht nur den Schmerz, sondern schien auch ihre Gedanken zu lähmen. Wie zäher Brei flossen sie durch die Gehirnwindungen, wo normalerweise Geistesblitze zuckten.

Träge wanderte ihr Blick über die kahlen grauen Stahlwände, harten Pritschen zu den anderen Gefangen. Schließlich blieb er an ihrer Freundin Isy hängen. Sie betrachtete den zierlichen Körper der achtzehnjährigen Frau.

„Isy! Hey, Isy!", flüsterte sie. „Bist du wach?"

"Mmmmh!" Das Mädchen brummte kurz, doch reagierte nicht weiter und Caroline beobachtete einen Moment die gleichmäßigen Atemzüge. Gut, immerhin eine kleine Auszeit, die ihre Freundin nicht in Angst verbringen musste.

Das Dröhnen um sie herum schwoll an und ab und die Wände ächzten, je nachdem wie stark ihr Gefährt sich bewegte. Zunächst hatte sie angenommen, es müsste ein Schiff sein. Wie sie von einem Mitgefangenen erfahren hatte, war die Lage jedoch noch beängstigender. Er behauptete, sie wären in einem U-Boot! Ihre Reaktion war ein ungläubiges Lachen gewesen, aber sein Bericht, wie er im Dunkeln überfallen und verschleppt worden war, klang glaubhaft und glich ihrer Erfahrung. Im Gegensatz zu allen anderen war er allerdings vor der Verladung auf das neue Transportmittel aufgewacht und hatte mitbekommen, wie sie ihn durch das schwarze Loch und die Leiter heruntergebracht hatten.

Er schien um die vierzig zu sein und dass er hier war, erfüllte Caroline mit etwas Hoffnung. Vielleicht handelte es sich bei ihren Entführern doch nicht um Menschenhändler? Was sollten sie mit Beute in diesem Alter schon anfangen? Neben ihm, Isy und ihr selbst, waren noch zwei Männer und drei Frauen angekettet. Alle fünf fast noch im Teenager-Alter. Was hatten sie bloß gemeinsam und was zur Hölle hatten die Leute, die sie verschleppt hatten, mit ihnen vor?

Alles in ihr krampfte sich bei der Erinnerung an ihre eigene Begegnung mit den Entführern zusammen. Nein, das waren keine Menschenhändler, wie man sie aus den Nachrichten kannte. Sie dachte an die unnatürlich starke Hand, die sich um ihre Kehle gelegt hatte, an den eisernen Griff und wie undurchdringlich sich die Haut unter ihren Fingernägeln angefühlt hatte.

Ein Schluchzen stieg ihre Kehle hoch und sie presste die gebundenen Hände mit aller Gewalt vor den Mund, um jedes Geräusch zu unterdrücken. Sie musste die Gedankenspirale unterbrechen, die sie in den Abgrund zu reißen drohte.  Es gab bestimmt eine logische Erklärung für alles! Aber spielte logisch oder absurd überhaupt eine Rolle? Gefesselt und angekettet waren sie ihren Entführern, so oder so, völlig ausgeliefert.

Dennoch, ... wenn Caroline ganz tief in sich hineinhorchte, schaffte sie es auch unter Todesangst und Schmerzen nicht, die Entscheidungen zu bereuen, die sie hergeführt hatte.

Kristallinsel - Gefangene der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt