5. Kapitel 4.2 - Fragen

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Ein Stapel Papier lag auf ihrem Schoß. Sechsundzwanzig Seiten. Caroline schaffte es nicht, sich auf den Text zu konzentrieren. Die Gedanken kreisten um den letzten Teil des Gesprächs mit den drei Vampiren. Sie konnte das V-Wort mittlerweile denken und aussprechen, ohne es seltsam zu finden. Es wäre ihr auch egal, wenn es Hexen, Geister oder Werwölfe gewesen wären. Sie würden sie nicht einfach umbringen, aussaugen oder versklaven. Sie würden sie öffentlich hinrichten. Hängen, köpfen oder, was sie vor Angst beinahe den Verstand verlieren ließ, wahrscheinlich lebendig verbrennen.

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Nachdem Rebekka sie aufgeklärt hatte, dass Mr Psycho dem Parlament der Inselgemeinschaft angehört hatte, wurden ihr die das kleine Heftchen aufs Bett geworfen. Darin enthalten waren, neben allgemeinen Informationen über die Insel die Regeln und Gesetze sowie die empfohlenen Bestrafungen bei Verstößen.

„Jeder Neuling wird auf Wissen und Verständnis der Regeln geprüft, bevor er der Gemeinschaft vorgestellt wird. Du hast trotz allem ebenfalls ein Recht auf diese Informationen. Vielleicht findest du etwas Hilfreiches für deinen Prozess."

„Prozess?" Das Wort hatte Caroline aus ihrer Schockstarre gerissen. „Es wird einen Prozess geben?"

„Ja. Wie gesagt, werden König und Parlament darüber entscheiden, wie es mit dir weitergeht." Rebekka hatte die Augen verdreht, als wäre diese Information selbstverständlich. 

„Bedeutet das die Strafe, das Urteil, steht noch nicht fest?"

„Nun, es gibt immer ein wenig Spielraum. In der Größenordnung, in der du unterwegs bist allerdings ..." Sie hatte den Satz nicht beendet.

„Wie läuft das ab? Bekomme ich einen Anwalt? Oder etwas Ähnliches?"

Rebekka hatte sie einen Moment ungläubig angestarrt und Mr Amerika ein kurzes humorloses Lachen ausgestoßen.

„Du wirst Gelegenheit haben, deinen Standpunkt darzulegen und Reue zu zeigen. Damit ist dein Part abgeschlossen." Bevor Caroline weiterfragen konnte, fuhr Rebekka fort: „Lies dir das gut durch. Wir kommen morgen wieder und du hast Gelegenheit, sachbezogene Fragen zu stellen. Der Prozess ist für Übermorgen zehn Uhr vormittags angesetzt."

Mit diesen Worten hatten sie den Raum verlassen und die beiden Männer waren ihr gefolgt.

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Sie starrte an die Wand. Minuten. Oder Stunden? Schließlich begann sie erneut den Text zu studieren. Nach den ersten paar Seiten zitterten ihre Hände und heiße Tränen hinderten sie am Weiterlesen. Diese Monster machten keine halben Sachen.

Manche Strafen waren danach unterteilt, welche Spezies das Verbrechen beging oder zu welcher das Opfer gehörte. So war es legitim, dass Vampire jederzeit den Lebensbereich von Menschen betreten durften, zumindest nach Vorankündigung. Umgekehrt konnte es bis zu vier Peitschenhiebe für einen Menschen nach sich ziehen, wenn er uneingeladen den Besitz eines Vampirs betrat. Die Strafen waren drakonisch und wirkten mittelalterlich. Nachvollziehbar, wenn sie bedachte, mit wem sie es zu tun hatte. Zumindest, wenn man davon ausging, dass langes Leben oder gar Unsterblichkeit zu den vampirischen Eigenschaften zählten. 

Außerdem, wenn sie in ihre Welt zurückblickte ... nicht nur im Nahen Osten gab es noch immer öffentliche Auspeitschungen und Hinrichtungen. Ihr war bewusst, dass sie bisher unverschämtes Glück gehabt hatte, in einem Land zu leben, in dem körperliche Gewalt für die meisten Menschen nicht zur Tagesordnung gehörte. Das war nun vorbei.

Einfache Haft- oder auch Geldstrafen waren ebenfalls aufgelistet, allerdings neben Peitschenhieben auch schlimmere körperliche Strafen wie das Brechen eines Körpergliedes bei schwerem Diebstahl oder einige Tage oder Wochen in der Extraktion. Caroline nahm sich vor, morgen zu fragen, was das genau war. Sie erinnerte sich, dass Rebekka den Ausdruck bereits auf dem Boot benutzt hatte. Der kurzen Beschreibung konnte sie nur entnehmen, dass es um Blutentnahme ging. Blut. Ein weiterer Punkt der wohl keine Fiktion war.

Kristallinsel - Gefangene der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt