52. Kapitel 25.1 - Letzter Ausweg

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„Geh hinein. Ich komme gleich nach."

Es waren die ersten Worte, die er zu ihr sprach, nachdem sie das Hive verlassen hatten. Er hatte sie auf der gesamten Fahrt nicht einmal angesehen. Vermutlich konnte er sich nur so beherrschen. Er wand sich der Treppe zu, die nach oben führte und ließ sie mitten im dunklen Flur vor ihrem Wohnbereich stehen.

Benommen schritt sie über die Schwelle ihres Wohnzimmers, durchquerte langsam das Schlafzimmer und trat auf den Balkon, der über die Klippen ragte. Sie stützte sich mit eiskalt bebenden Händen schwer auf die steinerne Brüstung und ließ den Kopf zwischen den Oberarmen hängen.

Was hatte Joël ihm erzählt? Was kam nun auf sie zu? Konnte es noch schlimmer werden, als letztes Mal? Warum war er nach oben gegangen? Dachte er noch darüber nach, wie er sie am besten bestrafen sollte? Holte er irgendein Folterinstrument?

Überwältigende Panik brach durch die noch vorherrschende Taubheit und verschlang jeden rationalen Gedanken. 

Hektisch sah sie sich um, er war weder zu sehen noch zu hören. Geschwind, bevor sie sich anders überlegen konnte, setzte sie sich auf die breite Brüstung und schwang ihre Beine darüber. Sie kam auf der anderen Seite auf dem winzigen Vorsprung zum Stehen und hielt sich mit beiden Händen am rauen Stein hinter sich fest. Der kühle salzgetränke Meereswind riss an ihrem Kleid und wirbelte den Stoff wild um die Beine, als wollte er sie willkommen heißen.

Vor sich sah sie den weiten Horizont, unter sich die rauschenden schwarzen Wellen des Ozeans. Sie wusste, dass es eine Illusion war zu glauben, sie würde auf das Wasser aufschlagen. Es sah so nah aus, doch die Klippen fielen nicht senkrecht, sondern einige Meter zum Meer hin, ab. Egal, auch wenn es nur vierzig oder fünfzig Meter bis zum ersten Aufschlag waren, es würde genügen. 

Sie hatte panische Angst. Vor dem Fall fast mehr als vor dem Aufprall. Jeder Funke Selbsterhaltungstrieb versuchte sie zurück über die Brüstung zu treiben. Das Grauen beim Gedanken daran, was passieren würde, wenn sie weiter zögerte, war größer.

Mit einem tiefen zitternden Atemzug, schloss sie die Augen und ließ los.

Bilder blitzen vor ihrem geistigen Auge auf. Das Brandeisen. Thomas mit ihr Arm in Arm am Olivenbaum. Der erste Blickkontakt mit Isy. Das Kreuzfahrtschiff. Johannes mörderisch blitzende Augen in der Dunkelheit. Damiens Lippen auf ihren. Ihr chaotischer Arbeitsplatz. Lachende Freundinnen mit verschwommenen Gesichtern. Das verschmitzte Grinsen ihres Ehemanns. Diese winzige Hand, die ihre hätte halten sollen, es aber nie getan hatte.

Die Gravitation begann kaum sie nach unten zu reißen, als eine gegenwirkende Kraft sie um die Taille packte und gegen die Steinwand des Westflügels schleuderte. Die schiere Wucht trieb ihr jegliche Luft aus den Lungen, sodass keine mehr zum Schreien blieb. Ein großer Körper presste sich an ihren, hielt sie unbeweglich fest.

Krrrraakk! Bevor sie begriff was geschah, vernahm sie ein lautes Krachen und sie befanden sich wieder in freiem Fall. Ein heftiger Ruck fuhr durch den, zum Zerreißen angespannten, Körper vor ihr. Lautes Keuchen und leichtes Schwanken verrieten, dass er erneut Halt gefunden hatte.

Reflexartig hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen und mit einem Blick über die Schulter erkannte sie, dass sie irgendwo auf Höhe des zweiten Stockwerks, noch immer über den Klippen baumelten. Der um ihre Taille geschlungene Arm, zog sie enger an sich und für einen Moment fühlte sie sich sicher. Gerettet.

Ihre Blicke begegneten sich und tiefe Erschütterung sprach aus seinem. Thomas' weit aufgerissenen Augen sahen sie entsetzt an, sein Atem ging stoßweise, der Brustkorb hob und senkte sich unnatürlich rasch.

Er hatte sie gerettet! Er war der Grund, dass sie gesprungen war! Sie wollte sich mit aller Kraft an ihn klammern und wünschte gleichzeitig, er würde sie fallen lassen. Wie konnten diese Gefühle nebeneinander existieren? Sie zerrten an ihrem Innersten und ihr Herz würde jeden Augenblick zerfetzt werden.

Kristallinsel - Gefangene der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt