Halbgeborens Bastelstunde

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Der nächste Tag verlief so weit ganz normal. Ich begleitete Magnus noch in seine Klinik und ging dann weiter in mein eigenes Geschäft. Magnus hatte gestern noch die Gartenzwergin fertig gemacht und ich hatte die Dame informiert. Jetzt wartete ich darauf, dass sie kam und sie abholte.

Einige Passante schauten interessiert durch das Schaufenster, in dem ich verschiedene Teller, Teekannen, Tassen, Vasen und ein Vogelhäuschen aus Keramik ausgestellt hatte und zwei kamen sogar herein um sich umzuschauen. Als gerade nicht viel los war, beschloss ich nach hinten zu gehen und ein paar neue Stücke anzufertigen. 

Während ich einen Bilderrahmen mit Herbstmotiv zusammensteckte, klingelte das Windspiel über der Ladentür und ich hörte wie jemand den Laden betrat. Die aufgeregten Stimmen mehrerer Frauen bestätigten meine Vermutung. Die ältere Dame von gestern war wieder da und hatte Freundinnen dabei. Ich stand auf, wusch mir die Hände und klopfte getrockneten Ton von dem gemusterten Rock, den ich heute trug und ging wieder in den Kundenbereich des Laden. Mit einem zufriedenen Lächeln stellte ich fest, dass ich Recht gehabt hatte. Eine kleine Gruppe älterer Frauen durchstöberte meinen Laden. Zwei konnte ich in der Gartenabteilung sehen, eine bei den Tassen und eine hörte ich aus Richtung der Vasen. Die Dame von gestern hatte mich am Tresen entdeckt und kam freudestrahlend auf mich zu. 

"Guten Morgen! Ich hatte nicht erwartete das das so schnell ging, ich hoffe es ist dich in Ordnung, dass ich ein paar Freundinnen mitgebracht habe?" Ich lächelte zurück und sagte: "Guten Morgen. Selbstverständlich, es ist alles bestens.", ich schob ihr die Gartenzwergin hin, "Passt das so?" Die Frau schien zufrieden zu sein. In dem Moment kam eine ihrer Freundinnen herüber und begann ein Gespräch: "Guten Tag. Sie haben hier ja ein paar ganz spezielle Sachen! Haben Sie noch so eine Vase wie die im Schaufenster auf Lager? Ich finde die ja wunderschön." "Sie können die Vase aus dem Fenster gerne haben, aber nein, es gibt sie nicht doppelt. Bei mir gibt es gar nichts Doppelt.", entgegnete ich fröhlich und die Dame schaute mich mit großen Augen an. Dann lächelte sie breit und sagte: "Na das sieht man heute ja selten! Dürfte ich mir die Vase einmal näher ansehen?" 

Ich holte ihr die Vase die sie meinte. Es war ein klassisches Stück, mit Blumen und Vögeln verziert. Ich hatte ihr meinen Tick gegeben, indem ich die Vögel nicht aufgemalt hatte, sondern indem ich sie aus Ton geformt und aufgeklebt hatte. Die Vögel und Blumen waren also 3D. Der Kundschaft schien es zu gefallen.

Als wir kurz allein waren fragte die Dame, die gestern auch schon da war, leise: "Entschuldigen Sie, wenn Ihnen das zu nahe geht, aber gestern sagten Sie, sie seinen ein Mann? Und heute tragen sie einen Rock?" Ich hatte die Frage schon kommen sehen. Freundlich erklärte ich: "Ist schon in Ordnung. Ich bin genderfluid, heißt, mein Geschlecht wechselt von Zeit zu Zeit. Gestern war ich wirklich männlich, aber heute fühle ich mich durch und durch als Frau." Die Dame nickte und schien kein Problem damit zu haben. Leute die Probleme mit sowas hatten waren nämlich extrem lästig. 

In der nächsten Stunde zeigte ich meinen Kundinnen die Sammlung und machte richtig guten Umsatz. Währenddessen kamen auch noch ein paar andere Leute herein und schauten sich um. Als es im Laden wieder ruhig wurde, ging ich ins Lager, füllte die Regale soweit wie möglich neu und strich alles was ich verkauft hatte aus dem Katalog. Dann machte ich mich auf den Weg zurück zu meiner Töpferscheibe. 

Ich bastelte die Bilderrahmen fertig und begann dann eine neue Vase zu töpfern. Nichts weiter besonderes, außer, dass diese Vase drei Hälse bekam, die alle in verschiedene Richtungen zeigten. Ich stellte sie zu den Bilderrahmen in den Brennofen. Während dem töpfern war mir eine Idee für eine neue Tassenform gekommen. Hüte, die oben eingedellt waren, und bei denen die verbogene Hutkrempe als Tassenhenkel diente. Ich schob alles in den Ofen und holte den fertigen Bilderrahmen heraus. Im Laden waren inzwischen schon wieder ein paar Kunden, also stellte ich noch schnell den Wecker für den Ofen und ging wieder nach vorne. Als das Windspiel das nächste mal klingelte, war es TJ, der hereinkam. "Wurde aber auch Zeit,", begrüßte ich ihn fröhlich, "du hast verpasst, wie mein Laden beinahe ausgeräumt wurde, also hophop, wir brauchen neue Vasen!" TJ schnaubte genervt, aber ich konnte genau sehen wie seine Mundwinkel nach oben zuckten. "Ist schon gut, Alex. Hatte bis eben noch einen Scharfschützenkurs." Ich verdrehte die Augen, als könnte ich nicht verstehen, inwiefern das wichtiger sei als meine Töpfereien. 

Gemeinsam gingen wir ins Lager und TJ holte seine Farben heraus. Während er eine Teekanne wild anpinselte sagte er: "Ich hab Halbgeboren und Mellory gefragt ob sie mir mal helfen wollen. Ist doch in Ordnung, oder? Wir müssen nur aufpassen, dass Halbgeboren hier nix kaputt macht." Ich überlegte kurz, dann grinste ich und erklärte scheinheilig: "Überhaupt kein Problem." TJ schaute mich misstrauisch an. "Du planst was."

Eine halbe Stunde später waren die beiden auch da. Ich brachte sie zu TJ und holte aus einer Kiste eine normale Vase heraus. Ich hatte immer ein paar normale, unspektakuläre, langweilige Stücke auf Lager. Einfach als Notreserve, oder wenn ich was zerhauen wollte und mir meine Kunstwerke zu schade dafür waren.

Ich reichte die Vase Halbgeboren und sagte: "Hier. Die kannst du jetzt erst mal zerdeppern. Aber vielleicht in große Stücke, ja?" Halbgeboren Gunderson grinste, nahm mir die Vase aus der Hand und schleuderte sie mir einem wilden Schrei gegen die nächste Wand. Die Vase zersprang in Scherben. Halbgeboren riss die Hände in die Luft und rief: "Ha. Das hat sich gut angefühlt! Wenn ich gewusst hätte, dass ihr sowas hier macht, wäre ich schon früher gekommen! Was jetzt?"

Ich zog einen Kübel grün gefärbten Leim hervor. "Jetzt,", sagte ich sanft lächelnd, "darfst du die Vase wieder zusammenkleben!" Mellory brach vor Lachen zusammen und Halbgeboren schaute mich an als hätte ich den Verstand verloren. 

Aber ich drückte ihm den Leim und einen Pinsel in die Hand und drehte mich zu Mellory um. "Und Mellory wird dir helfen.", sagte ich, einfach weil ich es lustig fand. Mellory blieb das Lachen im Hals stecken und Halbgeboren stieß ein "Ha!" aus. Als ich an Mellory vorbei und zur Tür ging, flüsterte ich ihr zu: "Pass auf, dass Halbgeboren nicht noch mehr Vasen zerschlägt. TJ, wird dir sicher Farben, Pinsel und vielleicht ein paar Tassen oder Teller geben, die du anmalen kannst. Tob dich aus, Mel." Mel war mein Spitzname für Mellory. Genau wie bei Magnus (Maggi) durfte nur ich sie so nennen.

Im Laden erwartete mich allerdings jemand ganz anderes. Meine Stimmung sank augenblicklich auf Null, als ich meinen Vater vor den Tresen entdeckte, wo er meine Kataloge durchblätterte, in denen ich Fotos meiner Kunstwerke hatte. Wie durch ein Wunder war er der einzige im Laden.


Unveränderbar! - Oder?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt